Lesezeit: 9 Minuten
Interview mit Fabrice Balanche über Idlib und die Türkei und Russland in Syrien

»Syrien ist Schaubühne für russische Waffen«

Interview
Interview mit Fabrice Balanche über den Kampf um Idlib und die Türkei und Russland in Syrien
Foto: Sam Alrefaie

Fast eine Million Menschen stehen beim Kampf um Idlib zwischen den Fronten. Der französische Syrien-Experte Fabrice Balanche erklärt im Interview, warum Russlands Deal mit Erdoğan scheiterte und Moskau dennoch die besten Karten in der Hand hält.

zenith: Die syrische Armee und ihre russischen und iranischen Verbündeten blasen zum finalen Sturm auf die Provinz Idlib im Nordwesten unmittelbar and der Grenze zur Türkei. Warum gerade jetzt?

Fabrice Balanche: Das syrische Regime will das gesamte Land wieder unter seine Kontrolle bringen, deswegen rückt die letzte Bastion oppositioneller Kräfte natürlich in den Fokus. Man muss wissen, dass sunnitische Rebellen und die Kurden die Hauptverhandlungsmasse zwischen Russland und der Türkei sind. Die beiden Staaten vereinbarten damals, die territorialen Differenzen beizulegen …

 

… mittels des Abkommens von Sotschi, das eine Pufferzone schaffen sollte …

… mit dem Ziel, dass radikale Rebellengruppen zum Abzug gezwungen werden – allen voran Hayat Tahrir Al-Scham (HTS). Doch die von Ankara für diesen Zweck geschmiedete Rebellenallianz »Nationale Befreiungsfront« zog den Kürzeren und ging als Verlierer aus der Konfrontation mit der HTS hervor, die mittlerweile mit ihren Verbündeten 80 Prozent der Provinz Idlib unter Kontrolle hält. Erdoğan ist mit seiner Strategie also gescheitert.

 

Wer steckt hinter der Hayat Tahrir Al-Scham?

HTS ging aus der Nusra-Front hervor. Und die wiederum ist ein Zusammenschluss der syrischen Zweigstelle von Al-Qaida und verschiedener Rebellengruppen. Die HTS-Führung versucht zwar, sich von Al-Qaida zu distanzieren und hat etwa den Treueschwur zur Mutterorganisation nicht erneuert. Dennoch bekennen sich einige HTS-Verbündete weiterhin zu Al-Qaida, etwa die Ansar-Al-Din-Front oder der syrische Zweig der »Islamischen Partei Turkestans« (TIP). Auf Seiten der HTS – inklusive der Führungsriege – sind hauptsächlich Syrer vertreten. Mit zwei Ausnahmen: Die Ansar-Al-Din-Front und die TIP vereinen eine große Zahl von Kämpfern aus dem Ausland. Zweitere besteht fast ausschließlich aus mehreren tausend uigurischen Kämpfern. 

 

Wie finanziert sich HTS?

Die Nusra-Front erhielt lange finanzielle Unterstützung aus der Türkei, Saudi-Arabien und Katar – bis sich die Golfstaaten entzweiten. Die Türkei setzte ihre Unterstützung erst spät aus. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob HTS immer noch Gelder aus Saudi-Arabien zufließen. Viel wichtiger für die Finanzierung der Gruppe erweist sich heute die Kontrolle über die Provinz Idlib: Steuern, Handel, Versteigerung von konfisziertem Besitz von Christen, Alawiten oder auch ehemaliger Beamter – all das füllt die Taschen der Gruppe. Watad Petroleum, das Unternehmen, das die gesamte Provinz Idlib mit Öl und Gas versorgt, ist in HTS-Hand.

 

»Die Türkei ist auf Verhandlungsmasse in Idlib angewiesen, die für die Konfrontation mit den Kurden im Nordosten ins Feld geführt werden kann«

 

Die Türkei konnte ihre Zusagen nicht einhalten – was bedeutet das für Moskaus Strategie in Idlib?

Russland will das Assad-Regime stabilisieren und dafür sind zwei Faktoren von größter Wichtigkeit: Kontrolle über Nordsyrien und der Wiederaufbau von Aleppo. Und da kommt Idlib ins Spiel – und die Autobahn zwischen Latakia und Aleppo …

 

… eine der wichtigsten Verbindungswege in Nordsyrien, der quer durch die Provinz Idlib führt.

Aleppo ist derzeit nur über eine einfache Strasse mit dem Rest des Landes verbunden. Das erschwert den Wiederaufbau, weil die Stadt von ihrem Hinterland und Damaskus abgeschnitten ist. Allerdings will Moskau keinen Schnellschuss wagen. Erdoğan mit einer Offensive bis zur türkischen Grenze zu überrumpeln, könnte die Türkei wieder in die Arme der Amerikaner treiben, so die Befürchtung. Doch auch Erdoğans Strategie gleicht einem Drahtseilakt: Die Türkei manövriert zwischen Russland und dem Westen. In Reihen der Nato wächst die Sorge, ob sich Ankara als trojanisches Pferd im Dienste Moskaus erweisen könnte.

 

Trotz der Warnungen aus Washington hat das Nato-Mitglied Türkei gerade den Ankauf von S-400-Geschützen aus russischer Produktion verkündet.

Russland nützen Spannungen innerhalb der Nato. Und die Türkei wiederum hat keinen Hehl aus dem Ärger über die US-amerikanische Unterstützung für die kurdischen Streitkräfte in Nordsyrien gemacht. Zwar sind in der Führungsriege der YPG auch syrische Kurden vertreten, doch de facto haben die PKK-Veteranen aus der Türkei das Sagen. Bei Erdoğan klingelten die Alarmglocken, als die YPG den Euphrat überquerte. Denn das eröffnete das Szenario eines Zusammenschlusses von Afrin und der anderen kurdisch kontrollierten Gebiete über das Verbindungsstück Manbidsch. Das hätte bedeutet, dass die gesamte Nordgrenze zur Türkei unter der Kontrolle der syrischen Kurden gestanden hätte. Andererseits hatte die syrische Armee in diesen Grenzgebieten jeden Fortschritt der Tatsache zu verdanken, dass Erdoğan die Unterstützung für bestimmte sunnitischee Rebellengruppen temporär aussetzte. Diese Gemengelage schuf die Bedingungen für den russisch-türkischen Deal für Idlib.

 

»Würde die Regimeallianz das gesamte Gebiet unter Beschuss nehmen, könnten bis zu eine Million Flüchtlinge plötzlich an die türkische Grenze strömen«

 

Was verspricht sich Erdoğan von den Verhandlungen mit Moskau und dem Assad-Regime?

Da brauchen Sie nur auf Aleppo zu schauen: 2016 ließ Erdoğan zu, dass die syrische Armee den östlichen Teil der zweitgrößten Stadt Syriens einnimmt – im Gegenzug stieß die türkische Invasion unter dem Namen »Operation Euphrat-Schild« auf keinerlei Widerstand seitens des Regimes. Ein Jahr später lief es ganz ähnlich ab: Die syrische Armee marschierte in den östlichen Teil der Provinz Idlib ein, die türkischen Streitkräfte starteten ihren Einmarsch in Afrin, die »Operation Olivenzweig«. Aus Ankaras Sicht hatte man mit dem Sotschi-Abkommen wieder vorgelegt.

 

Und erwartete was im Gegenzug?

Im Idealfall eine Offensive gegen die Kurden. Immerhin bekam Ankara die Zusicherung, dass Moskau der YPG keinerlei Hilfe zukommen lassen würde. Und die türkische Führung drängte Washington dazu, Ende 2018 den Abzug der amerikanischen Streitkräfte im Nordosten anzukündigen – in das Vakuum würden dann die türkischen und die syrischen Regimetruppen stoßen. Man sieht hier, wie sehr die Lage in Idlib mit jener im Nordosten Syriens zusammenwirkt: Die Türkei ist auf Verhandlungsmasse in Idlib angewiesen, die für die Konfrontation mit den Kurden im Nordosten ins Feld geführt werden kann.

 

Diese Strategie scheint auch die Taktik bei den Kämpfen um die Autobahn Aleppo-Latakia zu bestimmen: Bislang beschränken sich die die Luft- und Artillerieangriffe des Regimes und seiner Verbündeten auf den Abschnitt südlich der Fernstraße.

Die Gebiete unter Rebellenkontrolle sollen in immer kleinere Einheiten aufgespalten werden, die dann eine nach der anderen eingenommen werden können – diese Taktik hat das Regime in Ghuta, Daraa und Ost-Aleppo bereits erfolgreich angewandt. In Idlib kämpfen ja bis zu 35.000 gut ausgebildete Dschihadisten, die haben nichts zu verlieren. Doch wenn man ihnen sichere Rückzugszonen bietet, fallen die Kämpfe weniger heftig aus. Außerdem kommt hier die Flüchtlingsfrage ins Spiel: Würde die Regimeallianz das gesamte Gebiet unter Beschuss nehmen, könnten bis zu eine Million Flüchtlinge plötzlich an die türkische Grenze strömen – ein Alptraum für Ankara. So aber hat man Erdoğan Entgegenkommen signalisiert, vielleicht war das auch der Grund, warum die Türkei nach monatelangem Tauziehen schließlich den umstrittenen Waffendeal mit Moskau eigegangen ist.

 

»Washington hat an sich kein großes Problem mit der russischen Präsenz in Syrien, Iran dagegen ist ein rotes Tuch«

 

Welchen Ausgang sehen Sie für den Kampf um Idlib?

Auf lange Sicht ist zu erwarten, dass das Regime mit russischer Unterstützung die gesamte Provinz einnehmen wird. Alles Weitere hängt von Verhandlungen zwischen Ankara und Moskau ab. Aber zumindest die Hälfte der Provinz, südlich der Autobahn Aleppo-Latakia, wird unter die Kontrolle des Regimes fallen. Dafür ist dieser Transportweg zu wichtig

 

Welche Interessen verfolgt China in Syrien? Immerhin ist eine beachtliche Zahl uigurischer Kämpfer in Idlib aktiv. Auf der anderen Seite steht Peking ob der Internierung hunderttausender Uiguren international in der Kritik.

China unterstützt das Regime – nicht zuletzt, weil die Uiguren-Frage für Peking von so großer Bedeutung ist. Zugleich verschafft dieser Umstand Ankara einen Hebel gegenüber China: Der Großteil der Uiguren, die in Syrien kämpfen, sind über die Türkei ins Land gekommen. Zudem leben ja hunderttausende Uiguren im Exil in der Türkei. Die türkischen Konsulate in Thailand und Malaysia stellen uigurischen Flüchtlingen Aufenthaltserlaubnisse für die Türkei aus. Und dort angekommen, werden sie von Dschihadisten für den Kampf in Syrien rekrutiert. Auch für uigurische Dschihadisten, die zuvor in Afghanistan gekämpft haben, dient die Türkei als Zwischenstation. Wichtig ist auch der Blick nach Zentralasien: Mit Ausnahme von Tadschikistan sind alle Staaten in der Region kulturell eng mit der Türkei verbunden, zumeist über die Sprache. China hat kein Interesse an einer türkischen Achse in Zentralasien und auch dieser Aspekt spielt bei Pekings Sicht auf Syrien eine Rolle.

 

Spielen die Amerikaner noch eine Rolle in Syrien? Immerhin flog Außenminister Mike Pompeo im Mai nach Moskau, auch um die Lage in Syrien zu diskutieren.

Inzwischen hat sich im Weißen Haus wohl die Ansicht durchgesetzt, dass der angekündigte Truppenabzug ein Fehler war. Die Amerikaner sind nicht dumm, sie wissen genau, dass mit HTS eine dschihadistische Miliz in Idlib gegen das Regime kämpft. Andererseits ist ein Erfolg der russischen Offensive in Syrien nicht im amerikanischen Interesse, schließlich will Washington ja der iranischen Achse, die sich vom Libanon, über Syrien und den Irak erstreckt, den Garaus machen. Den Amerikanern geht es darum, dass Moskau Teheran fallen lässt. Washington hat an sich kein großes Problem mit der russischen Präsenz in Syrien, Iran dagegen ist ein rotes Tuch.

 

»Moskau sah die Intervention in Syrien auch als Gelegenheit, die Türkei in die Mangel zu nehmen«

 

Wie stehen Chancen für eine Entfremdung zwischen Moskau und Teheran?

Die russisch-iranischen Beziehungen reichen weit über Syrien hinaus, denken Sie allein an die Interessenlage in Zentralasien. Ich denke, Moskau sah die Intervention in Syrien auch als Gelegenheit, die Türkei in die Mangel zu nehmen – immerhin sind beide Länder ja Konkurrenten in der Region.

 

In welchen Bereichen kommt diese Konkurrenz zum Ausdruck?

Im Gasgeschäft natürlich. Die Transportwege aus Saudi-Arabien, Ägypten und Israel etwa laufen alle über die Türkei – und damit vorbei an Russland. Öl und Gas sind der Grundpfeiler der russischen Wirtschaft, deswegen hat Moskau ein fundamentales Interesse daran, den Markt für russisches Öl und Gas zu öffnen und einen guten Preis für seine Öl- und Gasexporte zu erzielen. Und der beste Weg, einen guten Preis herauszuschlagen, ist Druck auf Saudi-Arabien – denn das Königreich nimmt maßgeblichen Einfluss auf den Ölpreis, sobald es die Produktion hoch- oder runterfährt. Und wie übt man am besten Druck auf Saudi-Arabien aus? Indem man eng mit Iran zusammenarbeitet. Deswegen gibt es aus russischer Sicht keinen Anlass, mit Teheran zu brechen, zumal Iran im Zuge der Großmachtrivalität auch dazu dient, den amerikanischen Einfluss im Nahen Osten einzuhegen.

 

Russlands Wirtschaft stagniert und kann außer Öl und Gas nicht viel bieten. Wie nachhaltig ist Moskaus ökonomisches Ausgreifen in der Region?

Putin verspürt keinen Zeitdruck und bislang geht die Rechnung auf. Russland gibt etwa zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr für den Einsatz in Syrien aus – aus russischer Sicht ist das nicht besonders viel. Und Syrien dient als Schaubühne für die russische Waffenindustrie, die wohl auch deswegen lukrative Waffendeals mit Indien und Indonesien abgeschlossen hat. Das Volumen neuer Waffengeschäfte seit Beginn des Syrien-Einsatzes beläuft sich auf etwa 20 Milliarden US-Dollar. Außerdem ist der Ölpreis gestiegen, auch das liegt ja in Russlands Interesse. Auch die humanitären Kosten halten sich in Grenzen, insbesondere im Vergleich zum Afghanistan-Krieg in den 1980er Jahren. Moskau legt großen Wert darauf, die Verluste unter den eigenen Truppen auf ein Minimum zu begrenzen. Deswegen sind ja so viele Söldner in Syrien stationiert. Die russischen Soldaten dagegen bewegen sich meist kaum außerhalb ihrer Basen.



Fabrice Balanche ist Geograf und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität Lyon. Er ist zudem Fellow am Washington Institute for Near East Policy.

Von: 
Sam Alrefaie und Leo Wigger

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.