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UNRWA, Israel und Gaza

Wer die Auflösung von UNRWA verlangt, befördert Annexionspläne

Kommentar
UNRWA, Israel und Gaza
UNRWA

Die UN-Agentur für Palästina-Flüchtlinge hat komplexe Aufgaben, die andere nicht erfüllen können. Israel müsste froh sein, dass es sie gibt.

Dem von der Hamas angeführten Angriff auf Israel sind am 7. Oktober mehr als 700 Zivilpersonen zum Opfer gefallen, über 100 Geiseln sind immer noch in der Hand der Hamas beziehungsweise krimineller Banden in Gaza. Die Hamas setzt ihre Angriffe fort; Israel nimmt seit dem 7. Oktober sein Recht auf Selbstverteidigung wahr. Dafür gelten Regeln, und darüber, inwieweit diese eingehalten wurden, wird früher oder später Rechenschaft abzulegen sein. Aber bis dahin sollte man mit einem Urteil äußerst zurückhaltend sein und anerkennen, dass es Israels Recht ist, darüber zu befinden, ob und wie es sich bedroht fühlt und ob und wie es reagieren möchte.

 

Zu den geltenden Regeln gehört auch die Verpflichtung, einen humanitären Zugang zur von den Kampfhandlungen betroffenen Bevölkerung zu eröffnen. Hier ist Israel starker Kritik ausgesetzt, da es den Zugang mittlerweile zu einem Grad erschwert, der Verbündete und Freunde dazu zwingt, Hilfsgüter über Wege wie Landungsoperationen von See oder Abwürfe aus der Luft zu liefern. Diese Wege sind im Vergleich zu den sonst üblichen Lastwagentransporten außerordentlich aufwendig und teuer. Vor allem aber fällt die ansonsten übliche Weiterverteilung gerade bei aus der Luft gelieferten Güter weg. Jede Erfahrung legt nahe, dass die Stärkeren sie sich aneignen, während es die Schwächeren sind, die auf sie angewiesen wären.

 

Die wichtigste Rolle bei der Lieferung und Weiterverteilung von Hilfsgütern in Gaza spielt UNRWA (»United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East«), vom Generalsekretär der Vereinten Nationen bezeichnet als »Rettungsleine für Hoffnung und Würde«. Der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, erklärte, UNRWA spiele eine unverzichtbare Rolle bei der Weiterverteilung von Hilfsgütern, und die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock stellte in der letzten Haushaltsdebatte fest, die UNRWA-Strukturen seien derzeit fast die einzigen, die in Gaza überhaupt noch ansatzweise Hilfe verteilen könnten.

 

Warum fordern die israelische Regierung und viele, die ihren Kurs unterstützen, eine Abwicklung von UNRWA? Warum verlangen sie, dass andere UN-Organisationen die Funktionen von UNRWA übernehmen sollen? Können diese das überhaupt?

 

Beginnen wir mit der Antwort auf die letzte Frage. »Können« ist zunächst eine Frage der Kapazität. Für UNRWA Gaza arbeiten, wen wird es überraschen, Palästinenserinnen und Palästinenser, die in Gaza ansässig sind, insgesamt etwa 13.000. UNRWA ist dort der zweitgrößte Arbeitgeber nach den de facto staatlichen Strukturen der palästinensischen Verwaltung und der Hamas.

 

Auch in Jordanien ist UNRWA mit 7.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber nach dem Staat. 2,4 Millionen Menschen von insgesamt knapp über 11 Millionen Einwohnern in Jordanien sind registrierte Palästina-Flüchtlinge, eine Million von ihnen hängt direkt von einer Versorgung durch UNRWA ab, darunter 110.000 Schulkinder und 4000 Auszubildende.

 

Nun wäre es möglich, alle Beschäftigten mit neuer Personalnummer bei anderen Hilfsorganisationen anzustellen, die Fahrzeuge umzulackieren und die insgesamt über 700 Schulen oder 140 Einrichtungen für medizinische Grundversorgung, die UNRWA betreibt, mit anderen Schildern zu versehen. Die Frage ist, warum solche kosmetischen Maßnahmen das Problem lösen sollen, das Israel für UNRWA behauptet, bisher aber nicht mit Belegen versehen hat: nämlich eine strukturelle Unterstützung der Hamas.

 

Welches Mandat UNRWA hat und wie es zustande kam

 

Zuvor aber ein Blick auf die Mandate: Die zweite Ausprägung von »Können« ist nämlich die der Rechtsgrundlage. Jede Hilfsorganisation ist zur Erfüllung eines Auftrags ins Leben gerufen worden, um dessen Beschreibung die inzwischen 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nicht selten lange gerungen haben. Das Mandat einer UN-Hilfsorganisation ist daher keine Trivialität. Zwar bringt es die Natur dieser Organisationen mit sich, allerhand zusätzliche Aufgaben zu übernehmen – auch, um ihre finanzielle und personelle Basis zu verbreitern. Aber sie sind keine kommerziellen Dienstleister, denen man nur genügend Geld anbieten muss, damit sie jedwede Wünsche umsetzen.

 

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) wird – ähnlich wie UNRWA – von der israelischen Regierung nicht eben auf Händen getragen. So sprach der israelische Außenminister dem IKRK etwa »das Recht zu existieren« ab, sofern es diesem nicht gelinge, die israelischen Geiseln zu versorgen. Er ließ dabei außer Acht, dass es zunächst Pflicht der Hamas wäre, dem IKRK Zugang zu gewähren.

 

Trotzdem wird vereinzelt vorgeschlagen, das IKRK solle von UNRWA die Bereitstellung der medizinischen Grundversorgung übernehmen. Das Mandat des IKRK wird aus den Genfer Konventionen abgeleitet, so dass das IKRK streng genommen keine UN-Organisation ist. Es umfasst, ohne weitere Bedingungen, nur das Tätigwerden in internationalen bewaffneten Konflikten. Im Falle von bewaffneten Konflikten, die nicht international sind, kann das IKRK dann tätig werden, wenn die internationale Gemeinschaft dies anerkennt. Und bei internen Spannungen und Unruhen unter bestimmten Bedingungen ebenfalls. Unabhängig davon, wie man die Hamas als Partei eines bewaffneten Konfliktes klassifiziert – diese Bedingungen dürften im Gaza-Konflikt unstreitig vorliegen.

 

Ebenso unstreitig dürfte sein, dass eine bewaffnete Konfliktlage für Palästina-Flüchtlinge in Jordanien und Libanon nicht besteht. Zwar kann das IKRK seine Leistungen immer anbieten, aber man stelle sich vor, zu welchen politischen Verwerfungen es führen würde, wenn man Jordanien und Libanon unter Druck setzte, die Situation der dort seit über 50 Jahren aufhältigen Palästina-Flüchtlinge als humanitäre Notlage zu qualifizieren. Und zwar nur, um den Einsatz des IKRK und die Abwicklung von UNRWA zu ermöglichen.

 

Anderes gilt für syrische Flüchtlinge, die in Jordanien und Libanon vom IKRK mitversorgt werden. Hier wirkt der andauernde bewaffnete Konflikt in Syrien fort. Im Libanon kommt noch die Versorgung der Binnenflüchtlinge hinzu, die vor dem Konflikt im Süden des Landes geflüchtet sind. In der Folge der Angriffe vom 7. Oktober hatte die Hizbullah ihrerseits Israel angegriffen und Israel hat von seinem Recht auf Verteidigung Gebrauch gemacht. Auf beiden Seiten können derzeit ca. 80.000 Menschen nicht an ihre Wohnstätten zurückkehren.

 

Das Welternährungsprogramm (WFP), das als Kandidat genannt wird, um die Aufgabe der Nahrungsmittelversorgung für bedürftige Palästina-Flüchtlinge zu übernehmen, bekämpft Hunger, verbessert Ernährung, sichert den Zugang zu Nahrungsmitteln und fördert eine nachhaltige Landwirtschaft. Das US-Außenministerium hat kürzlich gegenüber der Presse erklärt, im Süden und in der Mitte Gazas bestehe ein erhebliches Risiko für eine Hungersnot, sie sei aber nicht vorhanden, während sie im Norden sowohl ein Risiko als wahrscheinlich auch vorhanden sei. Eine solche Situation löst das Mandat des WFP zweifelsohne aus.

 

Für Jordanien und Libanon liegt auf der Hand, dass das entwicklungspolitische Mandat des WFP nicht weiterführt, denn die Gruppe derjenigen Palästina-Flüchtlinge, die unter das UNRWA-Mandat fallen, darf in beiden Ländern nicht einmal Wohneigentum besitzen, geschweige denn Agrarland. Und eine Hungersnot liegt in beiden Ländern nicht vor, so dass sich die Tätigkeit auch hier auf die Versorgung der syrischen Flüchtlinge beschränkt. In Libanon hat das WFP in der Vergangenheit auch unter Libanesinnen und Libanesen Nahrungsmittel verteilt, allerdings sind dies immer Maßnahmen, in denen auf kurzfristige Unsicherheiten in der Nahrungsmittelversorgung reagiert wird.

 

Überhaupt ist die Tätigkeit von Hilfsorganisationen stets auf kurzfristige Einsätze ausgerichtet. Dies gilt auch für das UN-Kinderhilfswerk UNICEF. Das UNICEF-Mandat ist in erster Linie ein unterstützendes; UNICEF setzt sich für Kinderrechte ein und unterstützt dabei, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen. Abhängig vom spezifischen Bedarf kann dies zum Beispiel so aussehen, dass UNICEF Schulessen bereitstellt, um einen Anreiz zu setzen, zur Schule zu gehen anstatt auf dem Feld zu arbeiten. Oder dass – so geschehen in Syrien – Selbstlernmaterialien verteilt werden, die es Kindern ermöglichen, trotz eines mangelnden regulären Schulbetriebs Bildung zu erlangen.

 

UNRWA hingegen betreibt 706 Grund- und Mittelschulen in den fünf Einsatzgebieten Gaza, Westjordanland, Jordanien, Libanon und Syrien, acht weiterführende Schulen im Libanon für insgesamt über eine halbe Million Schülerinnen und Schüler, dazu acht Berufsbildungszentren für 8.000 Auszubildende und zwei Zentren für die Ausbildung von neuen Lehrkräften mit über 2.000 Plätzen. Ein solcher »Dauerbetrieb« fällt ersichtlich nicht in das Mandat von UNICEF.

 

Hier zeigt sich auch, was es bedeutet, dass UNRWA ein »direct service provider« ist, es diese Versorgungsleistungen also direkt umsetzt und nicht auf Dritte zur Durchführung zurückgreift. Man kann es sich in etwa so vorstellen, dass UNRWA eine eigene Schulbusflotte mit eigenem Fahr- und Wartungspersonal betreibt, während UNICEF je nach Kontext auf Lösungen wie Anmietung zurückgreift und eine eigene Fahrzeugflotte nur für die UNICEF-Verwaltung betrieben wird.

 

UNRWA hält einen rechtlichen Schwebezustand aufrecht, von dem Israel bislang profitiert

 

Nicht zu unterschätzen ist, dass alle diese Organisationen sich selbst einen massiven Reputationsschaden bescheren würden, wenn sie sich wie Renegaten an der Abschaffung einer von der UN-Generalversammlung mandatierten Organisation beteiligen würden.

 

Dies gilt auch für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Wie die anderen Organisationen versorgt es in Jordanien und Libanon syrische Flüchtlinge. Palästina-Flüchtlinge fallen nicht in sein Mandat. Der Ausgangspunkt für die Tätigkeit des UNHCR ist der Grundsatz der Nichtzurückweisung. UNHCR sichert das Recht von Flüchtlingen, nicht in einen Staat zurückgeführt zu werden, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Jede Tätigkeit des UNHCR ist auf diesen Grundsatz zurückführen – ob das UNHCR Flüchtlinge an ihrem Aufenthaltsort versorgt, damit sie nicht zur Rückkehr gezwungen werden, ob es sich für Umsiedlung und humanitäre Aufnahme in einem Drittland oder für Teilhabe beziehungsweise Integration im Aufenthaltsstaat einsetzt. Das Mandat des UNHCR wurde später auf Binnenvertriebene erweitert, also auf Menschen, die innerhalb ihres Herkunftslandes geflohen sind. Die Verantwortung für diese Menschen liegt in erster Linie bei dem Staat, dem sie angehören und innerhalb dessen Grenzen sie geflohen sind.

 

Es ist offensichtlich, dass Palästina-Flüchtlinge weder der einen noch der anderen Gruppe zuzurechnen sind. Dass sie nicht an ihre ursprünglichen Wohnstätten zurückkehren können, liegt nicht daran, dass ihnen dort Folter und schwere Menschenrechtsverletzungen drohen würden, sondern an der fehlenden Lösung der Flüchtlingsfrage. Die Frage, ob Palästina-Flüchtlinge in Gaza oder dem Westjordanland Flüchtlinge oder Binnenvertriebene sind, wirft zudem Fragen auf, deren Diskussion nicht im israelischen Interesse liegen dürfte. Eigentlich, so könnte man meinen, müsste Israel UNRWA dankbar sein, dass eine Art rechtlicher Schwebezustand aufrechterhalten wird.

 

Nach den Mandatsfragen nun zur politischen Bedeutung von UNRWA. Um es vorweg zu nehmen: UNRWA hat keine politische Bedeutung. Jedenfalls keine eigene. Was Israel nicht gehindert hat, UNRWA mit politischer Bedeutung aufzuladen. Und das kam so: Gegen Ende des Palästina-Kriegs von 1947-1949 richtete die UN-Generalversammlung eine Vergleichskommission ein, deren Aufgabe es war, die Situation nach dem Krieg zu entwirren, unter anderem durch die Versorgung der Menschen in Palästina, den Schutz der heiligen Stätten in Jerusalem und der Suche nach einer friedlichen Lösung des Konflikts. Diese Kommission empfahl, ihre Aufgaben im Bereich der Versorgung für die vertriebenen Menschen an eine besondere Einrichtung abzugeben. Wohlgemerkt: nur die Aufgaben im Bereich Versorgung.

 

Daraufhin wurde am 8. Dezember 1949 durch eine Resolution der UN-Generalversammlung die »United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees« (UNRWA) eingerichtet. Das Mandat dieser Organisation ist nicht in einem einzelnen Dokument festgelegt, sondern bildete sich über die Jahre heraus. Es beschränkt sich nach wie vor auf Hilfsleistungen an Palästina-Flüchtlinge. Einen Auftrag zur Verhandlung des Rückkehrrechts oder anderer Fragen für eine endgültige Lösung des Nahostkonflikts (sogenannte Endstatusfragen) hat UNRWA nie gehabt und hat es auch heute nicht.

 

Die Behauptung, UNRWA würde das Rückkehrrecht der Palästinenser perpetuieren und damit einer Friedenslösung im Nahen Osten im Weg stehen, ist also schlicht falsch. Dieses Rückkehrrecht ist letztlich ein Ergebnis aus zahlreichen unterschiedlichen Dokumenten wie der Flüchtlingskonvention und Resolutionen der UN-Generalversammlung. Jedoch ist die fortdauernde Existenz von UNRWA eine Mahnung dafür, dass zu den Endstatusfragen eben auch eine Lösung der Flüchtlingsfrage gehört.

 

Nicht vergessen werden sollte auch, dass das Westjordanland, das nach dem UN-Teilungsplan von 1947 für einen arabischen Staat vorgesehen war, im Laufe des Palästina-Krieges von Jordanien besetzt und 1950 annektiert, auch auf Wunsch vieler palästinensischer Persönlichkeiten. Der Gaza-Streifen wurde von Ägypten kontrolliert, aber nie annektiert und 1956-1957 kurzzeitig von Israel besetzt.

 

Israel hat UNRWA vorgefunden, denn die Agentur war vor der Besatzung da

 

Erst durch die israelische Besatzung 1967 entstand also die Situation, dass UNRWA in einem dauerhaft von Israel kontrolliertem Gebiet tätig war. Israel hat UNRWA dort vorgefunden. UNRWA wurde Israel nicht aufgezwungen. Dies sollte man berücksichtigen, wenn etwa israelische Regierungsvertreter erklären, mit UNRWA in Libanon, Syrien und Jordanien habe man kein Problem, wohl aber mit UNRWA im Westjordanland – und UNRWA in Gaza sei überhaupt nicht mehr vorstellbar. Wer dieses Narrativ akzeptiert, bewegt sich einen weiteren Schritt auf eine israelische Annektierung dieser Gebiete zu. Denn das Tätigwerden dieser Organisationen ist immer an das Vorliegen einer humanitären Notlage geknüpft. Der Brückenschlag zur spezifischen Ursache des Bedarfs, nämlich der fehlenden dauerhaften Lösung für die Palästina-Flüchtlinge, fehlt bei diesen Organisationen.

 

Man könnte sogar sagen, dass Israel über Jahrzehnte von der Existenz von UNRWA enorm profitiert hat. Dass Israel eine Besatzungsmacht ist, ist heutzutage internationaler Konsens und unter anderem auch die Haltung der Bundesregierung und der USA. Bis heute erkennt Israel aber nicht an, dass für Gaza und das Westjordanland die völkerrechtlichen Regeln gelten, die für militärische Besatzungen vorgesehen sind. Dazu gehören etwa das Verbot, eigene Zivilbevölkerung im besetzen Gebiet anzusiedeln und die Pflicht, für die Menschen im besetzten Gebiet eine Grundversorgung bereitzustellen.

 

Israel missachtet beides, indem es den Siedlungsbau zulässt und die Versorgung der Menschen in Gaza und im Westjordanland an die internationale Gemeinschaft auslagert. UNRWA macht Israel dies nicht schwerer, sondern leichter. Denn für das Tätigwerden anderer Hilfsorganisationen gelten, wie oben erklärt, zahlreiche Bedingungen, die für UNRWA nicht greifen.

 

Insbesondere die Forderung, UNHCR möge übernehmen, ist unlauter. Der Kern des UNHCR-Mandats, nämlich der Schutz vor Zurückweisung durch den Aufenthaltsstaat, ist, wie oben erklärt, nicht berührt. Der weitere Schutzbereich des UNHCR-Mandats, nämlich das Bemühen um Integration im Aufenthaltsstaat, missachtet die heikle Lage in den jeweiligen Aufnahmeländern. So wurde die Grenze des Libanons von der französischen Kolonialmacht 1920 so gezogen, dass maronitische Christen gegenüber sunnitischen Muslimen in der Mehrheit waren. Das heutige fragile Gleichgewicht zwischen den Konfessionen ist mehr eine Fiktion, auf die man sich 1989 nach 14 Jahren Bürgerkrieg im saudi-arabischen Taif einigte.

 

In Jordanien ist die Antwort auf die Frage, wie viele Palästinenser dort leben, von der Definition abhängig. Palästinenser, die 1948 nach Jordanien flohen, erhielten dort 1954 die Staatsangehörigkeit. Wer 1967 aus dem Westjordanland floh, hatte durch die Annexion 1950 ohnehin die jordanische Staatsangehörigkeit erhalten. Wer 1967 aus Gaza nach Jordanien floh, hat sie heute noch nicht. Genaue demografische Daten liegen nicht vor – vermutlich aus gutem Grund. Jordanien gelingt es in einem dauernden Eiertanz, einerseits eine eigene jordanische Identität populär zu machen und gleichzeitig zu berücksichtigen, dass die Bevölkerung zu einem ganz erheblichen Teil aus Menschen besteht, die ihren Ursprung in Gebieten haben, die heute unter israelischer Kontrolle sind.

 

Wer fordert, UNRWA möge aufgelöst werden oder ihre Zuständigkeiten auch nur teilweise an andere Organisationen übergeben, spielt israelischen Annexionsplänen in die Hände. Und zwar solchen, die das Land wollen und nicht die Menschen, die darauf leben.

 

Mit Ausnahme von UNRWA wurde keine der anderen Hilfsorganisationen für die Lösung einer spezifischen humanitären Krise geschaffen. Ihre Aufgabe ist abstrakter – sie schützen einzelne humanitäre Rechte wie das Recht auf Nahrung, das Recht auf Bildung oder das Recht auf Nichtzurückweisung. Ihre Mandatierung ist ein Ausdruck des kollektiven Willens der UN-Generalversammlung, diese Rechte zu achten und zu schützen.

 

Wer diese Organisationen behandelt, als handele es sich um reine Dienstleister, denen man nur genügend Geld bieten müsse, damit sie jedwede Aufgabe übernehmen und an der Abschaffung einer ebenso mandatierten Organisation mitwirken, missachtet diesen Willen und trägt zum weiteren Verlust des Ansehens Deutschlands in der Welt, vor allem aber im sogenannten globalen Süden bei.

 

Vorschläge, demnach Mittel für UNRWA in Jordanien direkt an die jordanische Regierung gezahlt werden sollten, mit der Maßgabe, die Palästinenser zu integrieren, zeugen entweder von Unkenntnis oder von kolonialer Überheblichkeit, wobei das eine selbstverständlich das andere nicht ausschließt.


Holger Tillmann hat mehrere Jahre für das Auswärtige Amt in unterschiedlichen Krisenkontexten mit UN-Organisationen zusammengearbeitet und ist zurzeit beim Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beschäftigt. In diesem Beitrag äußert er seine persönliche Meinung.

Von: 
Holger Tillmann

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