Die Muslimbruderschaft steckt in der Krise. Ein Blick in ihre fast hundertjährige Geschichte zeigt aber, wie resilient und anpassungsfähig die Islamisten sind – und wie es ihnen gelingt, einflussreicher zu erscheinen, als sie tatsächlich sind.
Nach fast zehn Jahren bewegen sich Ägypten und die Türkei wieder aufeinander zu. Aus diesem Grund riet die türkische Regierung Mitte März einer Handvoll Medienorganisationen, ihre Kritik an Ägyptens Potentat Abdel-Fattah Al-Sisi herunterzufahren. Nun hat die Türkei dem Bewegungsspielraum der Medien im eigenen Land ohnehin enge Grenzen gesetzt, die Aufforderung richtete sich aber an ein ganz konkretes Spektrum, das bislang relativ ungestört im Exil arbeiten konnte: darunter Al-Watan, das Sprachrohr der ägyptischen Muslimbrüder, sowie Mekameleen, ein Satellitensender mit Sitz in Istanbul, der den Islamisten ebenfalls nahesteht.
Seit dem Putsch 2013, der der so kurzen wie umstrittenen Amtszeit von Muhammad Mursi ein Ende setzte, sind die Muslimbrüder intern zerstritten und politisch weitgehend bedeutungslos. Doch dass sich die türkische Führung bemüht sieht, deren medialen Unterstützer an die Kandare zu nehmen, und auch Beobachter des politischen Geschehens die Wiederannäherung zwischen Kairo und Ankara mit der Muslimbrüder-Frage in Verbindung setzen, zeigt, dass die größte Organisation des politischen Islams weiterhin als zumindest wichtig wahrgenommen wird.
Zugleich bleiben die Muslimbrüder schwer zu greifen. Sie erscheinen als transnationale Organisation, ein global handelnder Akteur, der aus einer kohärenten Ideologie heraus agiert. Gleichzeitig ist das politische Endziel dieser Ideologie weitgehend unklar.
In westlichen liberal-demokratischen und menschen- rechtsorientierten Kreisen gelten die Muslimbrüder oft als verhinderte Demokraten des Arabischen Frühlings. Die Berliner SPD etwa will mit ihnen kooperieren, um einer etwaigen Radikalisierung von Muslimen in Deutschland durch als gefährlicher wahrgenommenere, ungleich gefährlichere Salafisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Am rechtskonservativen und populistischen Flügel des politischen Spektrums werden die Muslimbrüder immer wieder als Vorstufe zum Terrorismus eingestuft – ähnlich etwa dem Argument, demzufolge Haschischkonsum notwendigerweise zur Kokainsucht führt.
Seit ihrer Gründung haben sie sich über die gesamte Arabische Welt, in den USA, in Europa, Afrika und Südostasien verbreitet
Die Tatsache, dass die Muslimbrüder auf phänomenologischer Ebene schwer zu fassen und einzuordnen sind, gilt parallel zum Faktum, dass ihre Weltanschauung über den Zeitraum ihrer über 90-jährigen Existenz effektiv eine globale Wirkungskraft entfaltet hat. Zudem sind die Muslimbrüder durch Ableger in der nationalen politischen Szene zahlreicher arabischer Staaten vertreten – sowohl als im Untergrund operierende Bewegung als auch als Oppositionspartei in Parlamenten oder, im Falle Marokkos, sogar als Regierungspartei.
Gegründet hat die Muslimbrüder 1928 der ägyptische Grundschullehrer Hassan Al-Banna. Sie sollten eine authentisch islamische Antwort auf die Gefahren des europäischen Imperialismus bieten. Banna konzeptualisierte sie als Bollwerk, das den mit dem Kolonialisierungsprojekt einhergehenden und aus seiner Sicht korrosiven westlichen Vorstellungen vom Wert des Individualismus und des Materialismus die Werte des Islams gegenüberstellte.
Seither wurden die Muslimbrüder in Ägypten mehrmals gewaltsam verfolgt, so 1949 im Zeichen des Niedergangs der ägyptischen Monarchie und des »parlamentarischen Experiments« der 1940er Jahre, dann 1954 nach der Machtergreifung von Nassers Freien Offizieren, deren säkulare Weltanschauung mit der islamistischen der Muslimbrüder unvereinbar war, dann 1966 nochmals durch die Schergen der nasseristischen Militärdiktatur, als sie sich unter der spirituellen Führung des islamistischen Ideologen Sayyid Qutb neu zu konstituieren versuchten. Und schließlich im Juli 2013, als sie nach einem Jahr weitgehend inkompetenter Regierungsführung unter Mursi durch das Militär von der Macht geputscht wurden.
Seit ihrer Gründung und vor allem seit ihrer Politisierung 1939 anlässlich ihres fünften Generalkongresses in Kairo haben sich die Muslimbrüder über die gesamte Arabische Welt sowie in den USA, in Europa, Afrika und Südostasien verbreitet, indem sie eine Reihe nationaler, zivilgesellschaftlicher und religiöser Organisationen aufbauten und ihr Programm als spirituelle, erzieherische, soziokulturelle und auch als politische Reformbewegung regional und global propagierten.
Die Muslimbrüder in den 1960er und 1970er Jahren nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate
So kamen sie in den 1960er und 1970er Jahren nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate, deren politische Eliten im Zuge des Rückzugs der britischen Kolonialmacht vom Persischen Golf ägyptische Lehrer und Fachkräfte für den Staatsaufbau einstellten. Oder nach Saudi-Arabien, wo Banna bereits 1946 einen Ableger gründete und wo die Muslimbrüder später, nach der Machtergreifung Nassers, das saudische Königshaus bei dessen rasch fortschreitender Modernisierung unterstützten.
Oder in den Irak, wo der irakische Student Mohammed Al-Sawwaf nach seiner Rückkehr aus Kairo im Jahre 1945 eine Zweigstelle der Muslimbrüder gründete, die binnen kurzer Zeit viele Anhänger gewinnen konnte – bis der Militärcoup von 1958 durch Abdelkarim Qasim dem ein Ende setzte. Oder nach Palästina, wo sie bereits Ende der 1930er Jahre im Zuge der arabischen Revolte (1936–1939) in Gaza Ableger gründeten.
Die Netzwerke der Muslimbrüder lieferten dann dem in den Flüchtlingslagern erstarkenden palästinensischen (und vorerst säkularen) Nationalismus der 1950er Jahre die Strukturen zur Rekrutierung der sich rasch politisierenden Fedayeen, sowie später dem islamischen Widerstand in den 1980er Jahren in Form der Hamas. Oder nach Marokko, wo der Generalsekretär der aus den Muslimbrüdern hervorgegangenen »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung«, Saadeddine Othmani, Ende 2020 ein Normalisierungsabkommen mit Israel unterschrieb – und damit weite Teile der eigenen Partei gegen sich aufbrachte.
Hassan Al-Banna betrachtete die regionale und internationale Ausbreitung der Muslimbrüder als integralen Bestandteil seines politischen Programms. Aus diesem Grund entstand bereits 1945 eine »Kommunikationsabteilung mit der islamischen Welt« als Teil der Struktur der Muslimbrüder, gefolgt von der sogenannten International Organisation. Ähnlich ihrem Vorläufer hatte diese die Aufgabe, die diversen Aktivitäten der mittlerweile über die gesamte islamische Welt verteilten nationalen Organisationen zu koordinieren – mit dem utopischen Ziel, eine einheitliche politische Strategie zu bestimmen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass unter der Bedingung von freien demokratischen Wahlen die Muslimbrüder bereits drei Mal gewonnen haben
Im Zuge des Wiederauflebens des politischen Islams während der späten 1970er und frühen 1980er Jahre entstand im westlichen sowie auch im arabischen Mediendiskurs vor allem der Gegner der Muslimbrüder die stark überzeichnete Wahrnehmung einer global operierenden Organisation, die, gleich einem multinationalen Unternehmen, die Strategie der Untergrabung der westlichen Werte und deren Ersetzung durch islamische Werte zielgerichtet verfolgt. Diese Wahrnehmung hat sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 rapide verfestigt und ist heute in der Vorstellung vor allem der Anhänger des rechtskonservativen, identitären Spektrums in Europa und den USA fest verankert.
Die Realität widerspricht diesem überzeichneten Bild und es ist teilweise dieses Spannungsverhältnis zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, welches die Muslimbrüder in der westlichen medialen Landschaft am Leben erhält. Ohne Frage ist das politische Programm der Muslimbrüder quer durch die arabisch-islamische Welt verbreitet und stößt in gewissen Teilen der Bevölkerung auf Anklang. So kommt es nicht von ungefähr, dass unter der Bedingung von freien demokratischen Wahlen die Muslimbrüder bereits drei Mal gewonnen haben: 1990 in Algerien, 2006 in Gaza und 2012 in Ägypten.
In keinem dieser Fälle waren die jeweiligen politischen Kräfte jedoch bereit, ihnen eine echte Chance in der Regierung zu geben. Teile der westlich-liberalen sowie der islamistischen Fürsprecher der Muslimbrüder argumentieren daher, dass sie die eigentliche Partei der demokratischen Bestrebungen der arabischen Welt sei, analog etwa dem Beispiel der CDU, die gleichwohl aus einem rechtsgerichteten sozialen Konservativismus entstanden, sich durch ihre Einbindung in den demokratischen institutionellen Prozess gemäßigt habe.
Als Beispiel dafür wird etwa die Ennahda in Tunesien angeführt, die heute die Mehrheit im Parlament innehat und deren Führer Rached Al-Ghannouchi den Spagat einer Abtrennung der Scharia-Forderung von ihrem politischen Programm erwirkt hat. Oder auch Jordanien, wo die moderate »Islamische Aktionsfront« einen Teil der Abgeordneten im Unterhaus stellt. Oder Kuwait, wo die »Konstitutionelle Bewegung« der Muslimbrüder seit ihrer Neugründung 1991 nach der Besetzung durch irakische Truppen reichhaltig parlamentarische Erfahrung gewonnen hat.
Die Muslimbrüder sind auch ein integraler Bestandteil des jeweiligen nationalen Kontexts, in dem sie operieren
Befürworter dieser These argumentieren ähnlich im Fall von Ägypten und sogar von Syrien, wobei die Sachlagen dort weit komplexer sind. Andererseits sind die Muslimbrüder aber auch ein integraler Bestandteil des jeweiligen nationalen Kontexts, in dem sie operieren, wobei ihre politischen Entscheidungen bis auf wenige Ausnahmen von den Zwängen der Landespolitik diktiert werden und nicht etwa von übergeordneten ideologischen Zielen wie der Errichtung eines »Kalifats«. Die heutige Forderung der Muslimbrüder nach panislamischer Einheit hat sich später (mit Nasser) dem arabischen Nationalismus untergeordnet.
Denn die Diskrepanz zwischen den Kalifats-Aspirationen islamistischer Utopisten einerseits und der Unterordnung zahlreicher Erscheinungsformen der Muslimbrüder in die jeweiligen nationalen Kontexte andererseits verhält sich ähnlich wie das Missverhältnis des von Nasser propagierten Panarabismus zur nationalen Logik individueller arabischer Staaten.
Politikschaffende in Deutschland und Europa wären demnach gut beraten, ihre Wahrnehmungsmuster über die Muslimbrüder und den politischen Islam im Allgemeinen kritisch zu hinterfragen. Teile der westlichen Medien sowie die Führungsriege der ägyptischen Muslimbrüder selber versuchen andererseits oft, ein vereinfachtes und verzerrtes Bild der Realität zu zeichnen – so etwa jenes einer gut geölten und strategisch kohärent operierenden internationalen Organisation.
Die Realität ist jedoch komplexer und die Politik täte gut daran, geeignete Experten zurate zu ziehen, wenn sie beabsichtigt, relevante und effektive politische Programme im Nahen Osten zu finanzieren, die die Demokratisierung der arabischen Welt effektiv unterstützen sollen. Die Einbindung der Muslimbrüder spielt dabei sicher eine Rolle, doch sie muss nuanciert sein und die vielschichtigen lokalen Verhältnisse berücksichtigen.
Dr. Victor J. Willi hat in Zürich Islamwissenschaft studiert und in Oxford in Nahostgeschichte promoviert. Im Februar 2021 erschien sein Buch »The Fourth Ordeal: A History of the Muslim Brotherhood in Egypt, 1968–2018«.