Querfront oder Hufeisentheorie? Der schiitische Scheich Subhi Al-Tufayli attackiert die Hizbullah im Netz. Er hatte sie einst mitgegründet.
Zweiundsiebzig Jahre sind in der Bekaa-Ebene mit ihren Olivenbäumen und fruchtbaren Gemüsegärten kein besonders hohes Alter. Gleichwohl muss es als nicht selbstverständlich gelten, dass Scheich Subhi Al-Tufayli noch lebt. Der schiitische Gelehrte, der dort sein Hauptquartier betreibt, hat sich nämlich schon mit vielen Mächtigen im Nahen Osten angelegt.
Erst im August 2020 wandte er sich auf Youtube direkt an den Generalsekretär der schiitischen Hizbullah, Hassan Nasrallah. Dieser sei ein Pate des korrupten Systems geworden und lasse dem libanesischen Volk nur die Wahl »zwischen Hunger oder Bürgerkrieg«. Tufayli sagte dies im Nachklang der verheerenden Explosion im Beiruter Hafen, aber auch anlässlich des Aschura-Feiertags, der von Schiiten in aller Welt im Gedenken an ihren gemordeten Imam Hussein und die Opfer von Tyrannei insgesamt begangen wird.
Tufayli ist einer der wenigen schiitischen Gelehrten, deren Videos auch regelmäßig von Medien aus dem wahhabitischen Saudi-Arabien verbreitet und retweetet werden: Er beschimpft dann entweder die Hizbullah oder das Regime Irans, das sich nach seinem Dafürhalten die arabische Welt untertan machen will, die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten ausnutzt, Terror fördert und die »unrechtmäßige« Herrschaft des Klerus exportiert.
Als 1982 israelische Panzer in den Libanon einrückten, reiste Tufayli angeblich gerade über Damaskus zu einer Konferenz der iranischen Revolutionsgarde in Teheran.
Die »Partei Gottes« mag nun für verdeckte Sprengstoffeinsätze bekannt sein, allerdings nicht für ihre Toleranz gegenüber Kritikern und Dissidenten. Hält die Hizbullah-Führung Tufayli nur für einen ungefährlichen Schwätzer? Ein stures Landei im Ornat? Vermutlich möchte die Hizbullah in Baalbek keinen Ärger, denn dort ist ihre Macht lange nicht so groß wie in Teilen Beiruts oder des Südlibanon.
Und Scheich Tufayli steht unter dem Schutz mächtiger Clans. Ein Stachel im Fleisch der Hizbullah ist er, schon weil er gewissermaßen die Geburtsorte des schiitischen Widerstands für sich reklamiert. Die schiitische Amal-Bewegung ist hier entstanden; aus deren radikalen Randgruppen ging wiederum die Hizbullah hervor. Und er war von Anfang an dabei.
Tufayli stammt aus dem Dorf Brital und sollte als jüngstes von elf Kindern wohl zur Armee geschickt werden. Aber mit 17 reiste er stattdessen nach Nadschaf, die Stadt der schiitischen Geistlichkeit im Irak. Er schloss sich der revolutionären Strömung im Schiismus an. 1974 verjagte ihn das Baath-Regime aus dem Irak; zurück im Libanon begann Tufayli nun, unter Schiiten für die Ziele der Islamischen Revolution von Ayatollah Khomeini zu werben. Er kannte ihn wohl aus den Seminaren in Nadschaf. Tufayli gründete in der Bekaa-Ebene einen Verein politisch aktiver Kleriker. Mit der damals großen schiitischen Führerfigur des Libanon, Musa Sadr, zerstritt er sich hingegen schnell.
Im Juni 1982, als israelische Panzer in den Libanon einrückten, reiste Tufayli angeblich gerade über Damaskus zu einer Konferenz der iranischen Revolutionsgarde in Teheran. Eine Gelegenheit, die Ideologie des Widerstands gegen Besatzer nun auch in die Tat umzusetzen: Es folgte der Aufbau einer pro-iranischen, schiitischen Miliz namens »Hizbullah – Partei Gottes« in der Bekaa, deren erster Generalsekretär Tufayli wurde. Weitere Mitgründer waren ebenfalls Alumni aus Nadschaf: der zwölf Jahre jüngere Hassan Nasrallah und Abbas Musawi, der Tufayli als Generalsekretär der Hizbullah schon nach einjähriger Amtszeit ablösen sollte.
Wer irgendwo rausgeflogen ist, spricht selten gut von seinem alten Arbeitgeber, geschweige denn von seinem Nachfolger im Job.
Wer irgendwo rausgeflogen ist, spricht selten gut von seinem alten Arbeitgeber, geschweige denn von seinem Nachfolger im Job. Aber es scheint, dass die Hizbullah und die Iraner damals die richtige Personalentscheidung fällten. Auch eine bewaffnete Untergrundbewegung muss realpolitisch denken. Und Tufayli war wenig berechenbar. Sein endgültiger Bruch mit der Partei erfolgte, als diese sich anschickte, eine zu werden: Er lehnte eine Beteiligung der Hizbullah an den Parlamentswahlen von 1992 ab. Tufayli gründete eine eigene außerparlamentarische Bewegung, die sich »Revolution der Hungrigen« (Thawrat Al-Jiya') nannte.
Nicht vielen schiitischen Gelehrten wird der zweifelhafte Ruhm zuteil, im Vergleich mit Nasrallah »radikal« zu sein. Tufayli aber unterstellt der Hizbullah, sie spiele politische Spielchen und geriere sich als Grenzpolizei im Süden Libanons, die sowohl iranischen als auch israelischen Interessen diene. Wenn es nach ihm gehe, würde man Jerusalem vom Zionismus befreien. Nicht alle, aber doch die Mehrheit der Araber seien bereit, dafür ihr Geld und ihre Kinder herzugeben, behauptete er 2006 in einem Interview mit dem Sender Al-Arabiya.
Ende der 1990er Jahre hatte Tufayli Schlagzeilen gemacht, weil er und seine Anhänger sich eine Schießerei mit libanesischen Sicherheitskräften in der Bekaa geliefert hatten. Immer wieder wurde damals spekuliert, dass Tufayli unter dem Schutz der damaligen syrischen Besatzer stehe, die den Einfluss der Hizbullah im Libanon einhegen wollten. Und sei es, damit sie nicht den Schmuggel und das Drogengeschäft großer Clans in der Bekaa stört, wovon auch Syrer profitierten.
Mit Beginn des bewaffneten Aufstands in Syrien 2011 und dem späteren Eingreifen der Hizbullah aufseiten des Regimes wurde Tufayli zum heftigen Kritiker dieser Allianz. In einem TV-Interview erklärte er, die in Syrien gefallenen Hizbullah-Kämpfer seien keine Märtyrer, sondern kämen schnurstracks in die Hölle, weil sie muslimische Kinder töteten. Tufayli zog sich nun den Vorwurf zu, er sei selbst ein Handlanger des Westens oder Saudi-Arabiens, der gegen die Hizbullah agitiere.
Wie Nasrallah wechselt Tufayli in seinen durchweg politischen Reden hin und wieder vom Hocharabischen in den libanesischen Dialekt.
Wer für eine politische Nähe Tufaylis zu irgendwelchen ausländischen Mächten Indizien finden möchte, kann anführen, dass er sich zu Saudi-Arabien und der Türkei relativ gemäßigt äußert. Ansonsten vertritt er in öffentlichen Reden eine Art Hufeisentheorie. Ob Iran, Syrien, Ägypten, die VAE: Alle sind für ihn gleichmäßig niederträchtig und korrupt. Als willfährige Diener Israels und des Westens bewegten sie sich trotz ihrer Differenzen am Ende wieder symmetrisch aufeinander zu.
Der Westen wiederum, so Tufayli, befördere die Spaltung der muslimischen Welt, um sie besser zu beherrschen. Die arabischen Herrscher suchten dessen Unterstützung, weil sie sich vor ihren eigenen Völkern fürchteten.
Tufayli vermeidet zwar entsprechend der schiitischen Gelehrtentradition, die arabischen Herrscher als »Ungläubige« zu diffamieren. Aber er propagiert, Ägyptens Abdel-Fattah Al-Sisi oder der emiratische Kronprinz Muhammad bin Zayed betrieben eine Politik »gegen den Islam«.
Wie Nasrallah, als dessen Nemesis er sich geriert, wechselt Tufayli in seinen durchweg politischen Reden hin und wieder vom Hocharabischen in den libanesischen Dialekt.
Die meisten schiitischen Gelehrten posieren auf Youtube vor einer Fototapete mit der goldenen Kuppel eines schiitischen Schreins; Tufayli hingegen wählt die Kaaba von Mekka als Hintergrundmotiv. Er zeigt damit seine ökumenische Gesinnung und unterstreicht, dass er, ganz wie die Sunniten, viele Rituale und Eigenheiten der Schiiten für etwas übertrieben hält.
Tufaylis populistischer Panislamismus versucht durchaus an die islamischen Erweckungsbewegung (Nahda) des 19. und späten 20. Jahrhunderts anzuknüpfen.
Tufayli kritisiert den Sektarismus und ruft zur Versöhnung zwischen den Muslimen auf. Hin und wieder hört man von ihm auch eher nüchterne Analysen der Zustände im Nahen Osten. Sein populistischer Panislamismus wiederum versucht durchaus an die islamischen Erweckungsbewegung (Nahda) des 19. und späten 20. Jahrhunderts anzuknüpfen: Kraft und Erneuerung durch die Einheit der Muslime.
Laut Tufayli sollten Saudi-Arabien und Iran »zur Besinnung kommen« und Frieden schließen. Die Türkei muss unterstützt werden, wenn der Westen wieder einmal versuchen sollte, dort einen Militärputsch durchzuführen. Und die muslimische Welt braucht laut Tufayli dringend einen gemeinsamen Markt.
2006 erklärte Tufayli, er befürworte jegliche Atomprogramme der muslimischen Welt, ob zivil oder militärisch, weil es die technologische Entwicklung fördere. Es könne doch nicht sein, dass die Muslime das Schlusslicht der Globalisierung blieben.
Heute gibt es für den 72-jährigen Influencer technologisch ebenfalls noch Luft nach oben: Die Zugriffszahlen seiner Videos und Social-Media-Beiträge schwanken. Manche gehen viral, andere erreichen kaum 8.000 Klicks. Auch das könnte immerhin darauf hindeuten, dass sein Erfolg im Internet authentisch ist und nicht von einer Troll-Fabrik im Dienst eines ausländischen Geheimdienstes orchestriert wird.