Fluchtursachen bekämpft man am besten mit Wirtschaftspolitik, meint Günter Nooke, Merkels Afrika-Beauftragter. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler sagt auch, warum er es manchmal für sinnvoll hält, mit fragwürdigen Regierungen zusammenzuarbeiten.
zenith: Der Bundestag hat Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Sie waren selbst viele Jahre Mitglied des Parlaments und auch Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung. Wie hätten Sie abgestimmt?
Günter Nooke: Wir machen mit solchen Entscheidungen Politik in einer konkreten Situation; und haben ein Interesse daran, dass Menschen auch in Länder zurückgeschickt werden können, die im Großen und Ganzen nicht systematisch Menschenrechte verletzen. Das ist bei Ländern wie Marokko, Tunesien und Algerien sicher der Fall. Aber es gibt auch dort Einzelfälle, in denen der Staat selbst für einzelne Menschenrechtsverletzungen Verantwortung trägt. Deshalb ist immer die Frage, in welcher Weise wir auch bei Einzelfallprüfungen dem einzelnen Menschen gerecht werden können. Die Option, schnell abschieben zu können, wird mit dieser Entscheidung des Bundestags eröffnet, und insofern hätte ich wohl auch zugestimmt.
Bekommen Sie nicht Bauchschmerzen, wenn Sie sehen, wie Länder in Nordafrika mit Flüchtlingen umgehen? Die derzeitige Menschenrechtsbeauftragte, Bärbel Kofler (SPD), lehnt die Einstufung ab.
Für die Menschenrechtsbeauftragte ist das durchaus eine Möglichkeit, auf die Ambivalenz der Entscheidung hinzuweisen. Dennoch kann man auch die andere Position rechtfertigen. Ich lege wert auf eine Unterscheidung: Wir haben aus westlicher Perspektive immer behauptet, alle Menschen hätten das Recht, gut zu leben. Das stimmt nicht. Die Menschenrechte regeln das würdige Leben. Für das gute Leben muss man hart arbeiten. Das muss auch in Richtung Afrika gesagt werden. Wenn es allerdings um politische Verfolgung geht, müssen wir weiterhin Asyl gewähren. Da gibt es keine Kompromisse.
Setzen wir in der Zusammenarbeit mit den vermeintlich sicheren Herkunftsländern nicht gerade auf Herrscher, die totalitär regieren?
Nein. Wir brauchen aber in einigen Regionen etwas autoritärere Persönlichkeiten als in europäischen Ländern. Diese Regime sollten aber auf keinen Fall völlig undemokratisch oder totalitär sein. Es geht darum, welche Persönlichkeiten dort gewählt und akzeptiert werden. Da gibt es in vielen afrikanischen und einigen arabischen Ländern andere Maßstäbe. Aber ich glaube nicht, dass man in solchen Ländern als Regierungschef per se Menschenrechte verletzen muss, um an der Macht zu bleiben.
Was meinen Sie mit anderen Maßstäben?
Wir dürfen bei allem Menschenrechts-Vokabular nicht vergessen, dass Stabilität in der Welt ohne stabile Nationalstaaten nicht möglich ist. Es ist also auch in unserem Interesse, mit Regierungen in Nordafrika zu sprechen, sie ernst zu nehmen, zu unterstützen und – wenn es angebracht ist – sie zu kritisieren.
Gilt das auch für die Staatschefs von Eritrea und Sudan?
Ja. Wobei es natürlich sehr erhebliche Unterschiede gibt zwischen den verschiedenen Führern, zum Beispiel in der Türkei oder in Marokko. König Mohammed VI. etwa hat eine kleine Elite ausgebildet, die heute in der Lage ist, das Land voranzubringen und vertritt eine ganz besondere Form des Islam.
Wir müssen auch mit Staatschefs reden, denen wir vor fünf Jahren nicht die Hand gegeben hätten.
In Sudan und Eritrea ist die Situation aber eine andere.
Keine Frage, Omar Al-Baschir wird ja auch vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht. Dennoch hat es in den letzten acht Jahren auch dort eine Entwicklung gegeben. Und es ist nun mal so: Durch den Sudan kommen viele Flüchtlinge vom Horn von Afrika. Wir müssen auch mit Staatschefs reden, denen wir vor fünf Jahren nicht die Hand gegeben hätten. Wir bleiben kritisch zum Regime und werden jetzt nicht einfach mit Baschir sprechen, aber es gibt im Land auch andere Kräfte, die in unserem Interesse etwa Probleme im Osten des Landes gelöst haben. Wir machen uns damit nicht zu Komplizen des Regimes, sondern unterstützen sinnvolle Maßnahmen, die auch fragwürdige Regierungen umsetzen können. Das gilt auch für Eritrea.
Auf Initiative aus Brüssel soll die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Projekte zum »Grenzmanagement« in Eritrea und Sudan leiten – ein Fehler aus Ihrer Sicht?
Nein, wir haben uns selber darum bemüht, dass die GIZ bei einigen dieser Projekte zum Zuge kommt. Auf dem EU-Afrika-Gipfel in Valetta im November 2015 haben wir uns auf 16 Leuchtturmprojekte verständigt. Wir haben 1,8 Milliarden Euro bereitgestellt, so dass wir Projekte, die eng verbunden sind mit dem Thema Flucht und Migration, finanzieren können – da geht es um Flüchtlinge auf dem afrikanischen Kontinent aber natürlich vor allem um Migrations- und Fluchtbewegungen nach Europa.
Mit welchem Fokus?
Das Horn von Afrika ist eine der wichtigsten geopolitischen Regionen in Afrika für Europa und auch für Deutschland. Wenn nicht sogar die wichtigste. Wir wollen natürlich, dass zwischen Staaten wie Somalia, Eritrea und Äthiopien nicht neue Konflikte entstehen, sondern möglichst eine Entwicklung zu mehr Stabilität einsetzt. Zigtausende Flüchtlinge aus Eritrea im Sudan destabilisieren die Region. Wenn wir dort etwas tun können, was neue Kriege verhindert, dann sollte man nicht gleich sagen, wir würden uns mit den falschen Leuten einlassen. Wenn irgendwo Krieg ist, gilt es als völlig normal, dass man mit allen Ganoven und Kriegsverbrechern redet, um den Krieg zu beenden. Warum nicht auch präventiv?
Gespräche sind nicht das Problem. Aber wenn die Ausbildung von Polizisten und Grenzschützern gefördert wird, werden dann nicht autokratische Regierungen aufgewertet?
Deshalb muss man die Projekte so anlegen, dass die Geldtransfers nicht dazu führen, dass zuerst die Regierung profitiert, sondern die Menschen. Wir überweisen ja kein Geld auf die Konten der eritreischen Regierung, wenn wir Berufsausbildung betreiben oder mit NGOs vor Ort arbeiten. Dass dies ambivalent ist, gebe ich sofort zu.
Ich glaube nicht an Lager. Warum baut man da nicht gleich Städte?
Marokko, Algerien, Türkei, Sudan, Eritrea: Wo endet die Liste von Ländern, die man pragmatisch bei der Errichtung von Auffanglagern unterstützt?
Ich glaube nicht an Lager. Warum baut man da nicht gleich Städte? Meine Auffassung von Entwicklungszusammenarbeit ist eine andere. Wir sollten mit den fünf nordafrikanischen Ländern und mit Unterstützung der Europäischen Union versuchen, große Infrastruktur-Projekte dort umzusetzen. So könnte man Leute sinnvoll beschäftigen. Im Mittelmeer nur mit Patrouillenbooten unterwegs zu sein – das ist wenig innovativ.
Ein Marshall-Plan für Afrika?
Wir nennen das Programm »Wachstum für Nordafrika – eine europäische Agenda«. Eigentlich müsste das von der EU kommen, aber allzu viel hört man aus Brüssel ja auch nicht … Der Grundgedanke ist, Industrieproduktion wieder in Afrika anzusiedeln. Wir bräuchten eine Finanzierung dieser Partnerschaft, die Nordafrika und Subsahara-Afrika zusammenbringt. Aber in der EU gibt es dafür bislang leider weder Strategie noch Vision. Das Mittelmeer sollte ein verbindender Wirtschaftsraum sein – und nicht eine von Militärs kontrollierte Grenze.
Weder militärische Interventionen noch Grenzsicherung helfen also langfristig, Flucht nach Europa zu verhindern. Kann Entwicklungspolitik das leisten?
Entwicklungspolitik muss Wirtschaftspolitik sein! Am Ende geht es immer um die Entwicklung selbsttragender Wirtschaftsstrukturen. Das geht nur mit der Privatwirtschaft und nicht mit Entwicklungszusammenarbeit und Steuergeld. Aber Entwicklungszusammenarbeit und Steuergeld können diese privaten Initiativen anschieben. Deshalb muss das von der EU und den Staaten vorangetrieben werden – und nicht von NGOs, die andere Interessen haben.
Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit, wenn es um Europas Interessen in Afrika geht?
Natürlich. Im deutschen Interesse ist es, dass es Afrika gut geht. Für eine exportorientierte Wirtschaft wie unsere ist es immer gut, wenn es prosperierende Märkte und Rechtssicherheit vor der Haustür gibt. Dorthin kann man Waren verkaufen und produzieren.
Günter Nooke ist seit 2010 persönlicher Afrika-Beauftragter der Bundeskanzlerin mit Sitz im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der 57-Jährige war als DDR-Bürgerrechtler in den Jahren 1989/90 Mitglied des Zentralen Runden Tisches. Von 1998 bis 2005 saß er für die CDU im Bundestag. Von 2006 bis 2010 war er Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung.
Und ist es auch eine Prämisse, dass so weniger Afrikaner nach Europa kommen?
Auch das sollte gesagt werden, gerade auch afrikanischen Regierungen: Es ist unser Interesse, dass nicht alle Menschen nach Europa kommen, sondern dass sie Perspektiven für Beschäftigung in Afrika finden. Und deshalb erwarten wir von Euch, dass ihr Eure Länder so führt, dass die Menschen nicht alle weglaufen wollen oder müssen. Ich bin auch der Meinung, dass man offen über Unterschiede reden soll und nicht immer betont, dass wir uns auf gleicher Augenhöhe begegnen. Das ist Unfug. Was Europa kann und was Afrika kann, ist sehr unterschiedlich.
Die Regierung in Kenia hat zum wiederholten Male angekündigt, Dadaab und andere Flüchtlingslager zu schließen. Welche Konsequenzen befürchten Sie?
Das UNHCR und auch wir mit unseren Projekten in den Lagern sind darauf angewiesen, dass die Regierung das zulässt. Daher muss man ernsthaft darüber reden, was mit den Flüchtlingen wirklich passiert, wie man ihnen helfen kann. Das Problem ist, dass jede Regierung in die Versuchung gerät, Flüchtlinge zu instrumentalisieren und mit ihnen pokert. Der Mensch darf nie Mittel für Zwecke werden. Jeder Mensch und auch jeder Flüchtling ist immer ein Subjekt mit eigener Würde.