Statt neuer Megaprojekte verspricht Istanbuls neue Verwaltung, die Stadt lebenswerter zu machen – und bezieht die Bürger in die Umgestaltung mit ein.
Mit den Worten »Wenn der Mensch stirbt, hinterlässt er ein Denkmal«, eröffnete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan 2018 die Yavuz-Sultan-Selim-Köprüsü, die dritte Bosporusbrücke. Stadtplanung war schon immer ein verlässliches Instrument im populistischen Werkzeugkasten autoritärer Regime.
Deren Führer üben Einfluss auf die gebaute städtische Umwelt aus, um ein Bild von Stärke, Gestaltungsmacht und Entschlossenheit zu vermitteln. Es handelt sich um eine physische Verfestigung der Macht, die in der Identität eines Ortes verankert wird und die weit über die Herrschaft und die Lebensspanne des jeweiligen Demagogen hinaus Bestand hat.
In der Türkei geht Stadtplanung Hand in Hand mit verschiedenen anderen autoritären Strategien zur Durchsetzung der Zentralisierung der Macht. Dazu gehören die Unterdrückung und Verfolgung von öffentlicher Kritik und politischer Opposition, die Untergrabung der Justiz, die Instrumentalisierung islamischer und nationalistischer Gefühle sowie der Einfluss und die Kontrolle über Medien und Nachrichtenkonzerne.
Die Stadtplanung ist eine besonders beliebte Strategie für neoliberale autoritäre Regime, die unter Wirtschafts- und Währungskrisen leiden, da der Bausektor ein effektiver Jobgenerator ist. In vielen autoritären Regimen besteht daher eine enge Beziehung zwischen Baumagnaten und den höchsten Regierungsvertretern.
Diese Beziehung hat Istanbuls Stadtentwicklung geprägt und den Anstoß für Megaprojekte gegeben. Dazu gehören neben der erwähnten Bosporusbrücke die Çamlıca Camii (die größte Moschee der Türkei mit sechs Minaretten, die 2019 eröffnet wurde), der neue Flughafen (Baubeginn 2018, nach Fertigstellung wohl der größte Flughafen der Welt) und der Istanbul-Kanal (geplant als 43 Kilometer langer und 400 Meter breiter Kanal, der von sechs Brücken überquert wird und das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbindet).
Diese Megaprojekte wurden ohne Rücksprache mit lokalen Planern oder direkt betroffenen Gemeinden ausgearbeitet und stehen wegen ihrer überhöhten Kosten und Auswirkungen auf die Umwelt in der Kritik.
In Istanbul herrscht ein intensiver Wettbewerb um Raum
Grundsätzlich braucht eine Stadt von Istanbuls Größe natürlich urbane Planung. Als größte Metropole Europas hat Istanbul in den letzten Jahrzehnten einen raschen städtebaulichen Wandel erlebt, der durch Land-Stadt-Migration und Bevölkerungswachstum angekurbelt wurde und zu einem intensiven Wettbewerb um Raum führte. Der Bedarf an einer angemessenen Stadtplanung, die diese Dynamik widerspiegelt und auf sie reagiert, wurde jedoch nicht abgedeckt.
Istanbul befindet sich inmitten einer Wohnungskrise, und die umliegende Natur wird durch unkontrollierte Zersiedelung aufgezehrt. Wenn man sich zu Fuß durch diesen städtischen Dschungel bewegt, fällt der Mangel an Fußgängerinfrastruktur, öffentlichen Plätzen und Grünflächen auf, in denen sich die Bürger versammeln und miteinander interagieren können, ohne konsumieren zu müssen.
Das ist nicht nur ein Beispiel für ein neoliberales, wachstumsorientiertes Planungsparadigma, sondern auch für autokratische Regierungen, die den öffentlichen Raum als potenzielle Bedrohung ihrer autoritären Herrschaft betrachten.
2019 stimmte die Mehrheit der Istanbuler für den Bürgermeisterkandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP), Ekrem İmamoğlu, der gegen Ex-Premier Binali Yıldırım von der AKP angetreten war. Der Reputationsschaden, die größte Stadt des Landes und das finanzielle und kulturelle Zentrum der Türkei zu verlieren, war so groß, dass die Wahlleiter auf Drängen der AKP veranlassten, das Ergebnis zu annullieren und die Wahl erneut durchführen zu lassen. Die Istanbuler reagierten darauf, indem sie erneut für İmamoğlu stimmten, dabei konnte er seinen Vorsprung sogar noch vergrößern.
Das Projekt »İstanbul Senin – Istanbul gehört dir«, das von der Istanbuler Stadtverwaltung und des neu gegründeten städtischen Planungsbüros Anfang 2020 initiiert wurde, will einen radikal anderen Ansatz der Stadtplanung vertreten. Zuerst rief die Stadt dazu auf, sich mit neuen Gestaltungskonzepten für den öffentlichen Raum zu bewerben.
Aus insgesamt 233 Einreichungen wurden drei Entwürfe für die Umgestaltung der Viertel Salacak, Taksim und Bakırköy ausgewählt und zur Abstimmung gestellt. Über einen Zeitraum von vier Wochen stimmten 350.000 Einwohner Istanbuls auf einer eigens eingerichteten Online-Plattform über ihren Favoriten ab. Die Gewinner wurden Ende November 2020 bekannt gegeben.
Der erste für den Umbau ausgewählte Standort ist Salacak in der Gemeinde Üsküdar auf der asiatischen Seite von Istanbul. Dank direktem Ausblick auf den ikonischen Kız Kulesi (Jungfrauenturm) ist die Gegend ein beliebtes Ausflugsziel für Besucher aus anderen Teilen Istanbuls und Touristen gleichermaßen. Gegenwärtig wird die Promenade von Parkplätzen flankiert, die den Fußgängern den Zugang zu der etwas heruntergekommenen Aussichtsplattform erschweren.
Der von den Einwohnern Istanbuls gewählte architektonische Entwurf zeichnet sich durch einen verbesserten Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr, eine Fußgängerzugang sowie durch Grünflächen mit Laufstrecken, Spielplätzen und einem Amphitheater aus. Die Terrassen, die scheinbar von der Morphologie der Klippen inspiriert sind, bieten den Besuchern einen Ort zum Sitzen und Entspannen. Laut den Architekten soll die an die natürliche Küstenlinie angelehnte Aussichtsplattform zudem vor Erosion und Überflutungen schützen.
Als zweiter Standort für die Umgestaltung wurde Taksim ausgewählt. Der zentral gelegene Platz im Bezirk Beyoğlu, dem Herzen Istanbuls, dient derzeit als Verkehrsknotenpunkt mit Zugang zu den wichtigsten Bus- und U-Bahn-Stationen und befindet sich in unmittelbarer Nähe der Istiklal Caddesi, der Haupteinkaufsstraße Istanbuls. Historisch gesehen war Taksim ein beliebter Treffpunkt für politische Kundgebungen.
Aus diesem Grund wies die Gegend schon immer eine gewisse Polizeipräsenz auf. Die hat seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 erheblich zugenommen. Mittlerweile sind Polizeibarrikaden und schwer gepanzerte Fahrzeuge allgegenwärtig, um jegliche Versuche, politische Demonstrationen abzuhalten, zu verhindern.
Der gewählte architektonische Entwurf verspricht, den Taksim-Platz in einen Raum für Erholung, zum Spazierengehen und Entspannen zu verwandeln. Das soll durch die Errichtung von Springbrunnen, Bäumen und Grünflächen erreicht werden, die eine Kulisse für das geschäftige Treiben in der Umgebung bieten sollen.
Darüber hinaus soll eine neue Fußgängerbrücke mit Aussichtsterrassen über den Bosporus gebaut werden, die Taksim mit dem nahe gelegenen Maçka-Park verbinden soll. Der architektonische Entwurf sieht vor allem die Schaffung baulich anpassungsfähiger Bereiche vor, die den Bedürfnissen der Bürger gerecht werden sollen. Die sollen durch einen Prozess der Bürgerbeteiligung ermittelt werden, der vom neu gegründeten Taksim-Kollektiv organisiert werden soll.
Der dritte Standort befindet sich in Bakırköy, einem vorwiegend bürgerlichen Wohngebiet im Westen Istanbuls in unmittelbarer Nähe des Marmarameeres. Der Bakırköy Cumhuriyet Meydanı ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt mit einer Autobahn, die die Nord-Süd-Achse bildet, und einer Eisenbahnstrecke, der Ost-West-Achse.
Die Einbeziehung von Bürgern ist ein bemerkenswertes Gegenstück zum bisherigen Top-down-Ansatz
Die Lage an einem Verkehrsknotenpunkt führte zu unzusammenhängenden Nachbarschaften. Der gewählte architektonische Entwurf soll daher Teil einer kulturellen Regeneration werden, die versucht, diese Viertel durch breite moderne Brücken und Aussichtsplattformen wieder miteinander zu verbinden und kulturelle Räume und Aktivitäten zu fördern.
Der Ansatz der CHP in Istanbul stellt durch das Mitspracherecht nur eine von zahlreichen möglichen Maßnahmen für eine Demokratisierung der Stadtplanung dar. Dennoch ist die demokratische Einbeziehung von Bürgern ein bemerkenswertes Gegenstück zum bisherigen Top-down-Ansatz der AKP mit ihrem Fokus auf Megaprojekte. Das könnte ein erster Schritt zur Förderung eines größeren sozialen Zusammenhalts, zur Stärkung der institutionellen Legitimität und des Mitspracherechts in einer von Spannungen und Misstrauen geprägten Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft sein.
Natürlich gibt es berechtigte Bedenken gegen diese Initiative. Es ist fraglich, ob die prestigeträchtige Neugestaltung öffentlicher Räume in überwiegend mittel- und großbürgerlichen Gegenden Priorität haben sollte. Besonders in einer Stadt wie Istanbul, die dringend sicheren und erschwinglichen Wohnraum für unterprivilegierte und marginalisierte Gemeinschaften benötigt, deren Beteiligung an diesem Projekt bislang unklar bleibt.
Auch der Vergabeprozess von Bauaufträgen an Firmen ist bisher nicht eindeutig geklärt. So muss etwa sichergestellt werden, dass die Umgestaltung nicht durch Missmanagement und Korruption beeinträchtigt wird. Darüber hinaus besteht Sorge, dass die Neugestaltung von Plätzen mit hoher gesellschaftlicher und historischer Bedeutung wie Taksim die wichtige Symbolfunktion für politische Meinungsbildung und politisches Engagement einschränkt. Zuletzt fehlen Details zum Thema Nachhaltigkeit, etwa was den Einsatz klimafreundlicher Baustoffe anbetrifft.
Darüber hinaus wird Bürgermeister İmamoğlu mit einer Regierung zu kämpfen haben, die die CHP als inkompetent und ineffizient darstellen will. Seit den Kommunalwahlen 2019 kann die Unterdrückung oppositionell geführter Gemeinden auf die Liste der autoritären Strategien der türkischen Regierung gesetzt werden. Das äußert sich in der Vorenthaltung von Geldern und dem Ausschluss lokaler Beamter von Entscheidungs- und Planungsprozessen.
Zurzeit werden die Verträge formalisiert und die Antragszeichnungen und rechtlichen Verfahren für die ausgewählten architektonischen Entwürfe fertiggestellt. Und das nächste Projekt zur Umgestaltung steht bereits an. Noch bis Mitte Dezember können Istanbuls Bürger über die Entwürfe zur Umgestaltung des Hafengebiets im Stadtteil Kadiköy abstimmen.
David Samuel Williams ist Mercator-IPC Fellow am Istanbul Policy Center der Sabancı-Universität.