Die Künstlerin Lara Baladi hat Fotos und Videos von Aufständen weltweit gesammelt. Dabei stößt sie auf erstaunliche Parallelen.
zenith: Wie haben Sie persönlich die ägyptische Revolution von 2011 erlebt?
Lara Baladi: Ich hatte damals gerade eine Kunstserie zum Tod meines Vaters abgeschlossen und war gedanklich schon auf dem Weg nach Mexiko für ein Kunststipendium – in Ägypten veränderte sich einfach nichts, und ich brauchte Veränderung. Doch dann kam der 25. Januar – der »Polizeitag« mit reduziertem Polizeiaufgebot – und wie jedes Jahr protestierten die Menschen auf dem Tahrir. Doch 2011 kamen zum ersten Mal mehr Demonstranten als Polizisten.
In dieser Nacht sah ich das Video eines jungen Mannes, der einen Wasserwerfer der Polizei stoppte – genauso wie sich damals der »Tank Man« 1989 auf dem Tiananmen-Platz der chinesischen Armee entgegenstellte. Dieses Video hat mich tief berührt. Ich erinnerte mich, wie ich mehr als 20 Jahre zuvor die Bilder aus China im Fernsehen gesehen hatte, und spürte, dass eine neue, eine unsichere Ära in Ägypten begann. Am 28. Januar, dem »Tag des Zorns«, schloss ich mich den Demonstranten an.
In dieser Zeit begannen Sie, Bild- und Videomaterial vom Tahrir-Platz zu sammeln.
Das Video das »Watercanon Man« aus Kairo ging viral. Zur gleichen Zeit sah ich auf Facebook eine 40 Jahre alte Rede von Jean-Paul Sa tre vor streikenden Arbeitern in Frankreich. Ich bekam das Gefühl, Geschichte würde sich wiederholen. Daher begann ich, den kreativen Tsunami der Bilder und Videos einzufangen, der das Internet über- schwemmte und all die Geschehnisse dokumentierte. Es entstand eine unendlich lange Linkliste voller Materialien, die sich vor allem um die Ikonographie und Bildsprache der Revolution drehte – vieles aus Ägypten, aber auch Elemente aus anderen Ländern oder Zeiten.
Warum sammelten Sie all diese Dinge?
Archivierung gehört zum Handwerk der Künstlerin. Anfangs war das Sammeln schlicht reflexartig, es war mein Versuch, diese außergewöhnlichen Entwicklungen festzuhalten. Alles geschah so schnell, ich war überwältigt und brauchte einen Weg, diesen historischen Moment zu begreifen. Irgendwann wurde meine Liste mit all den Fotos und Videos so umfangreich, dass ich begriff: Es wird ein Archiv. Ab diesem Moment begann ich, alles aktiv zu organisieren und methodisch weiter zu sammeln. Später nannte ich mein Archiv »Vox Populi – Tahrir Archives«, es entstand eine Sammlung der Kreativität und Ausdruckskraft des Volkes.
»Jeden Abend zeigten wir Bilder der Revolution, auch libysche Aktivisten aus Benghazi besuchten uns und brachten Videos mit«
Wie sind Sie mit dem entstehenden Archiv umgegangen?
Im April 2011 hielt ich einen Vortrag in New York, bei dem ich einige der Eindrücke aus meinem Archiv teilte. Obwohl das Publikum voller Menschen war, die Ägypten gut kannten, schien niemand diese Bilder zu kennen. Da habe ich verstanden, wie wichtig meine Arbeit eigentlich war. Der standortabhängige Google-Algorithmus sowie ganz unterschiedliche Interessen gaben uns allen sehr verschiedene Bilder derselben Ereignisse. Ich wollte nicht mehr nur sammeln, ich wollte auch meine Geschichte erzählen, als eine von vielen Geschichten über den Tahrir.
Einige der Aufnahmen zeigten auch Menschen auf dem Tahrir während des zweiten großen Sit-ins im Juli 2011. Kannten nicht alle längst diese Bilder?
Auf meine Initiative hin installierten einige Aktivisten und Künstler eine große Leinwand auf dem Platz – wir starteten das »Tahrir Cinema«. Jeden Abend zeigten wir Bilder der Revolution, auch libysche Aktivisten aus Benghazi besuchten uns und brachten Videos mit. So entstand ein Ort des Austausches, an dem Aktivisten und NGOs weitere Schritte besprechen und sich gegenseitig Hilfe anbieten konnten. Eine Ort für die Menschen.
Einmal präsentierte ich eine Auswahl aus meinem Archiv – Animationen, Vlogs, Filmausschnitte und Karikaturen. Zur Überraschung meiner Freunde sahen viele der Menschen auf dem Platz diese Bilder zum ersten Mal. Anders als die meisten dachten, hatten viele Ägypter damals noch keinen Zugang zum Internet und standen vor allem unter dem Einfluss der Mainstream-Medien.
Wie hat sich Ihr Projekt seitdem weiterentwickelt?
2014 bekam ich ein Stipendium des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Ich wollte mein Projekt mit einem größeren Publikum teilen und beschäftigte mich intensiv mit digitalem Storytelling und Archivierungsmöglichkeiten. In diesem Kontext entstand auch die schauspielerische Darstellung »Performing the Archive« an der Universität Harvard. Am selben Tag begannen die Proteste gegen Polizeigewalt in Ferguson, die durch den Tod des Schwarzen Mike Brown aufgelöst wurden.
Tahrir fühlte sich so weit entfernt an und war dennoch so nah: Zum Ende der Perfomance zeigte ich den brandaktuellen Ausdruck einer Facebook-Seite, die den »Tag des Zorns« in New York ankündigte. Der gleiche Auslöser, die gleichen Protestformen, die gleiche Wortwahl – ein weiterer Grund, mir die Parallelen zwischen dem Tahrir und anderen globalen Bewegungen genauer anzusehen.
Könnten Sie ein Beispiel für diese Parallelen geben?
Die offensichtlichste Gemeinsamkeit ist, dass viele Protestbewegungen durch den Tod junger Menschen ausgelöst oder charakterisiert werden: Der Tod von Neda Agha Soltan 2009 in Iran, der Tod von Khaled Said 2011 in Ägypten, der Tod des Syrers Hamzah Al-Khatib 2011, der Tod von Mike Brown oder auch der Tod von George Floyd in den USA im Mai 2020 – und noch viele mehr.
»Seit 2011 hat sich die ägyptische Gesellschaft verändert – teils radikal, teils ganz subtil«
Auch in Ihrem neuen Projekt halten Sie nach diesen Ähnlichkeiten Ausschau.
In »Anatomy of a Revolution« möchte ich verstehen, wie Revolutionen funktionieren, ich möchte sie sezieren. Inspiriert hat mich dabei vor allem das gleichnamige Buch von Brighton Crane. Er zeigt darin, wie ähnlich die großen Revolutionen der Geschichte abliefen, und dass sie einem zyklischen Verlauf in immer gleichen Phasen folgten. Auch ich habe in meinem Archiv verschiedene Phasen der ägyptischen Revolution gefunden, beziehungsweise deren Symptome in Form visueller Materialien aus den jeweiligen Zeiten.
Welche Phasen sind das?
Alles beginnt mit dem vorrevolutionären Status quo. Die Steigerung der Proteste spätestens seit dem Tod von Khaled Said führten zum Aufstand, den 18 Tagen des Tahrir, die von einer riesigen Welle visueller Materialien begleitet wurden. Die Entfaltung der Revolution führte darau in erst zur Machtübernahme der Muslimbrüder und später zur Herrschaft des »Obersten Rates der Streitkräfte«, bevor sich ein postrevolutionärer Status quo unter Präsident Al-Sisi einstellte.
Diese letzte Phase war die Zeit für sozioökonomische und politische Analysen, die Zeit, Bilanz zu ziehen, für einige die Zeit, das Land zu verlassen, für andere die Zeit zur Rückkehr zum Alltag. Für die allermeisten war es aber die Zeit, sich aus dem Politischen zurückzuziehen und sich auf das eigene ökonomische Überleben zu konzentrieren.
Wie viel Veränderung können Revolutionen dann erreichen?
Je weiter wir uns von dieser Phase entfernen, wird deutlich, dass Transformationsprozesse, der Kern von Revolutionen, keinen Anfang und kein Ende haben. Seit 2011 hat sich die ägyptische Gesellschaft verändert – teils radikal, teils ganz subtil. Die ägyptische #MeToo- Bewegung ist ein Beispiel für diese, wenn schon nicht politische, dann doch gesellschaftliche Revolution.
Glauben Sie, Ihr Archiv hilft bei der Planung künftiger Revolutionen?
Falls es so funktionieren würde, würde die Menschheit nicht seit Tausenden von Jahren Aufstände und Revolutionen erleben – schon unter der Herrschaft von Ramses III. wurde ein Streik der Arbeiter in der Stadt Deir El-Medina dokumentiert. Konfuzius hat einmal gesagt: »Unser größter Ruhm liegt nicht darin, niemals zu fallen, sondern nach jedem Scheitern wieder aufzustehen.« Wir müssen aus der Geschichte lernen, um bewusst in die Zukunft zu schreiten. Ich möchte dafür eine künstlerische Perspektive eröffnen und nahelegen, dass sich der historische Zyklus, in dem wir gefangen sind, verändern kann – von Revolutionen hoffentlich zur Evolution.
Lara Baladi, geboren 1969, ist eine ägyptisch-libanesische Künstlerin, Archivarin und Kunsterzieherin. Sie ist Mitglied der »Arab Image Foundation« und lehrt seit 2015 am »Massachusetts Institute of Technology« (MIT).