Alle neun Fotos entstanden während meiner Tätigkeit als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache. Mit den meisten der Portraitierten bzw. Fotografierten verbrachte ich jeweils beinah zwei Jahre im täglichen Unterricht der deutschen Sprache, mit vielen habe ich bis heute Kontakt, mit einigen bin befreundet, mit Rahme seit 11 Jahren. Ich begann 2003 Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten. An den von mir geleiteten Kursen nahmen Menschen unterschiedlicher Religion teil, die meisten von ihnen sind Muslime. Vorher wusste ich nicht viel über die Kultur der Muslime. Meinen Schülern verdanke ich mein jetziges Wissen darüber, denn sie gewährten mir einen Einblick in ihr Privatleben, ihre Bräuche und Tradition, ihre Religion, sie luden mich zu Hochzeiten und verschiedenen Feiern ein und erzählten mir von ihrer Heimat – vom Leben im Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan, Syrien, Marokko, der Türkei usw. Sie erzählten von ihrem Leben, das durch Krieg, Kämpfe, Bombenangriffe, Armut und Verlust gekennzeichnet war. Sie alle leben in Deutschland, weil sie einen Grund dafür haben. Da ist zum Bespiel die 27-jährige Aissatou (4), die noch niemals die Schule besucht hatte und nun versucht, lesen und schreiben zu lernen. Nachdem ihr Mann in Guinea umgekommen war, blieb sie mit ihren beiden Kindern mittellos. Sie hatte keine andere Wahl, als ihre Kinder in Obhut ihrer Verwandten zu geben. In Deutschland versucht sie Fuß zu fassen, eine Existenz aufzubauen. Jedes Mal, wenn sie ein Kind im Arm hält, wird sie von einer unsagbaren Traurigkeit heimgesucht und hofft, bald ihre eigenen Kinder in den Arm zu schließen. Hamza und Abdulla sind Brüder (1, 2). Sie verließen ihre Heimatstadt Aleppo mit ihren Eltern und vier Geschwistern vor eineinhalb Jahren, nachdem Bomben ihr Haus zerstört hatten. Nach einjährigem Aufenthalt im Libanon kamen sie nach Deutschland. Hier wird ihrem Schwerstbehinderten Bruder geholfen. Hamza und Abdulla sind begeisterte Fußballspieler; obwohl sie noch wenig Deutsch sprechen, traten sie einer Mannschaft bei, in der sie die einzigen Ausländer sind. Die Kommunikation funktioniert dennoch gut. Carlos ist Musiker. Er nennt Angola als seine Heimat, obwohl er im Kongo aufgewachsen ist. Seine Familie musste flüchten. Den erlebten Krieg verarbeitet er in seinen Liedern. Wegen der politischen und sozialkritischen Textinhalte wurde er auch im Kongo verfolgt. Auch in Deutschland hat er nicht aufgehört, auf die Zustände in seiner Heimat aufmerksam zu machen. Musikalisch. Rahme war Teilnehmerin meines ersten Integrationskurses. Es war im Spätherbst, als sie während einer Stillarbeit plötzlich von ihrem Platz aufgestanden war und wie im Trance zum Fenster ging – es schneite. Es war für sie das erste Mal im Leben, dass sie Schnee sah... Vielleicht portraitierte ich sie deshalb aus dem Fenster schauend. Alle meine Schüler hinterließen eine Geschichte in meinem Gedächtnis; ich brauche nur ihr Gesicht auf meinen Fotos zu sehen, um mich zu erinnern.