Der Debüt-Roman »Iman« des kanadisch-beninischen Schriftstellers Ryad Assani-Razaki erzählt von der Suche nach den eigenen Wurzeln in Afrika – und stellt damit die Flucht nach Europa in den Schatten.
Eigentlich deutet zu Beginn von Ryad Assani-Razakis erstem Roman »Iman« nichts darauf hin, dass es um Einwanderung geht. Wäre da nicht das Inhaltsverzeichnis: Die Endbuchstaben jeder Kapitelüberschrift ergeben senkrecht gelesen IMMIGRATION. Auch einen Jungen namens Iman sucht der Leser in dem Werk, das 2011 den »Robert-Cliche-Preis« als bestes Debüt gewann, erstmal vergeblich. Er folgt vielmehr in einem nicht genannten Land den Spuren Toumanis, der von seinem Vater im Alter von sechs Jahren an eine Kinderhändlerin verkauft wird.
Schon fast klischeehaft herzzerreißende Szenen spielen sich ab, in denen Toumanis Leben vor allem von der schlagenden Hand des Monsieur Bias geprägt wird, die ihn letztlich in einem Kanalschacht ablädt. Inmitten von Ratten, die das verletzte Bein annagen, wähnt sich der Junge dem Tode nah. Doch hier entscheidet sich Toumanis Schicksal: Er wird durch den Titelhelden Iman und seine Freunde befreit. Die Freundschaft zu Iman wird Toumanis Leben bestimmen: »Ich verdanke ihm alles, sogar mein Menschsein.« Diese tiefe Verbundenheit verleitet ihn später dazu, Iman als Dank die Liebe seines Lebens überlassen zu wollen.
Von der Hoffnung auf einen Platz im Boot
Den »halb-weißen« Iman lernt der Leser nur aus Sicht Dritter kennen: Die Erzählperspektive wechselt zwischen Toumani, dessen Freundin Alissa, Imans religiöser Großmutter, seiner rebellischen Mutter und seinem ängstlichen Halbbruder. Zu keinem Zeitpunkt wird der als emotionslos beschriebene Iman zum Ich-Erzähler, wodurch dem Leser ein Eintauchen in seine innere Welt verwehrt bleibt. Nur aus der Distanz erleben wir seine Entwicklung vom verstoßenen – weil unehelich mit einem Weißen gezeugten – Kind hin zum jungen Erwachsenen voller Sehnsucht nach Europa.
Angeheizt von der Liebschaft mit einer Europäerin, wird aus der Kombination fehlendes Zuhause, Perspektivlosigkeit und Suche nach den eigenen Wurzeln ein explosives Gemisch. Weder durch warnende Worte eines Heimgekehrten, noch durch fehlendes Geld für einen Platz im Boot lässt sich Iman von seinem Plan abhalten, nach Europa zu emigrieren. Sein Freund Toumani beschreibt die unbeirrbare Hoffnung Imans: »Seine Augen suchten den Horizont ab, als könnte er ihn mit dem Blick durchbohren und so in die neue Welt vordringen, die er sich größer und schöner vorstellte als unsere. Wir waren klein, wir waren überflüssig. Alles, was ich zu ihm sagte, war belanglos. Die Welt hatte eine viel größere Anziehungskraft als meine Worte.«
Um Iman im Hier zu bewahren ist Toumani sogar bereit, seinem Freund seine Kindheitsliebe Alissa zu überlassen. Diese Entscheidung entwickelt eine enorme Eigendynamik und lässt Toumani schließlich in einer Nacht zur Bestie werden. Die ihm wichtigsten Menschen gehen beide verloren: Alissa wendet sich von ihm ab, Iman verlässt das Land auf einem Boot gen Europa.
Kein klassischer Flüchtlingsroman
Der Roman »Iman« nimmt den Leser mit in eine Welt verschiedenster Farben, Perspektiven und Emotionen. Über mehr als 300 Seiten durchlebt man Toumanis Verzweiflung, dem Leid durch andere oder durch sein eigenes Verhalten gegenüber Iman wiederfährt. Ryad Assani-Razaki schrieb den Roman in Kanada, wo er seit 2004 lebt und als Informatiker arbeitet. Schon immer von Literatur fasziniert, gelingt es Assani-Razaki in seinem Roman eine Spannung aufrecht zu erhalten, die an das Hin-und-Her von Hollywood-Liebesfilmen erinnert.
Nur selten, nämlich wenn die Irrungen und Wirrungen der Jugend ausarten, sackt diese Spannungskurve ab. »Iman« glänzt aber vor allem durch zwei Dinge: Der Traum von Europa sowie dessen Auswirkungen auf die Nebendarsteller bleiben dem Leser trotz der vielversprechenden Endbuchstaben der Kapitelüberschriften vorenthalten. Nicht die Immigration in die neue Welt behandelt der Roman, sondern die Emigration aus der alten. Zum anderen glänzt der Roman durch seine Nichtverortung.
Anders als andere, oftmals autobiographische Flüchtlingsromane werden weder die Stadt noch das Land genannt, das Iman verlassen will. Nur wenige Details wie Klima, Essen, politische Ereignisse sowie ein von Alissa zitiertes Gedicht lassen darauf schließen, dass es sich vermutlich um Benin, das Geburtsland des Autors handelt. Die Geschichte von Liebe, Freundschaft, Eifersucht und Sehnsucht könnte sich so auch an vielen anderen Orten abspielen.
Iman
Ryad Assani-Razaki
Verlag Klaus Wagenbach, 2014
320 Seiten, 22,90 Euro