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Norwegens Muslime nach Utoya

»Bitte lass es keinen Muslim gewesen sein!«

Feature

77 Tote, viele Verletzte, ein zurückgetretener Polizeichef – und ein bis ins Mark erschüttertes Land. Am Freitag erwartet Norwegen das Urteil im Fall Breivik. Die muslimische Norwegerin Karen Jacobsen erinnert sich an den 22. Juli 2011.

Ein Mann beritt den Gerichtssaal. Er trägt Anzug und Krawatte. Kurz bevor er sich hinsetzt, hebt er seinen Arm zu einem rassistischen Gruss. Diese Bilder dürfte jeder Norweger zur Genüge kennen – und auch darüber hinaus gingen sie um die Welt. Am kommenden Freitag soll das Urteil im Fall Breivik bekannt gegeben werden.

 

Karen Jacobsen, gebürtige Norwegerin erinnert sich an den Tag, an dem Norwegen in einen tiefen Schock versetzt wurde. »Ich war zu Hause und mein jüngster Sohn Andre rief mich an. Er fragte mich, ob ich wisse, was passiert sei. Ich verneinte, woraufhin er sagte, ich solle den Fernseher anstellen.«

 

Den Rest des Tages wurde der Fernseher nicht mehr ausgeschaltet, und die 53-Jährige konnte nicht glauben, was sie sah: 20 Minuten von ihrer Wohnung entfernt war mitten in Oslo eine Bombe explodiert. »Und ich erinnere mich noch sehr genau, das mein erster Gedanke war: Bitte, lass es kein Muslim gewesen sein!«

 

Die Mutter von 5 Kindern konvertierte in den 1990er Jahren zum Islam; sie hat erlebt, wie sich die Atmosphäre gegenüber muslimischen und vermeintlich muslimischen Menschen, etwa Sikhs, nach den Anschlägen vom 11. September drastisch verändert hatte. »Ich rief meine Tochter an, die gerade unterwegs war. Ich sagte ihr: Zieh deine Kapuze über den Kopf. Ich wollte, dass sie ihr Kopftuch versteckt. Dass sie im Bus nah beim Busfahrer sitzt. Ich hatte Angst.«

 

Bevor der Täter identifiziert wurde, brachen sich antimuslimische Ressentiments Bahn

 

Und die Vorfälle, die sich in den Stunden nach dem Bombenanschlag ereigneten, als noch nicht klar war, wer der Attentäter war, gaben ihr traurigerweise Recht: Muslime wurden auf offener Straße beschimpft und angegriffen, muslimische Frauen, leicht erkennbar durch das Kopftuch, wurden aus der Straßenbahn gedrängt, User-Kommentare auf Nachrichtenseiten im Internet riefen teils sogar zu Gewalt gegen Muslime auf.

 

»Ein algerischer Freund von mir besitzt ein Café in Oslo. Eine Gruppe von Männern kam in sein Café und beschimpfte ihn, was er hier wolle, dass er verschwinden müsse.« Schrecklich sei es gewesen und beängstigend, nicht auszudenken was passiert wäre, wenn es tatsächlich ein terroristischer Anschlag aus dem islamistischen Milieu gewesen wäre.

 

Doch dann die Nachricht: Ein Norweger. »Ich war schockiert. Nie hätte ich damit gerechnet, dass so etwas ausgerechnet in Norwegen passiert. Und als dann die Nachricht kam von der Insel, dass er so viele Kinder erschossen hat…da war man nur noch sprachlos. Traurig. Dieser Mann behauptet in seiner Ideologie er wolle norwegische Werte beschützen – er repräsentiert niemanden außer sich selbst. Mit norwegischen Werten hat das nichts zu tun.« 77 Menschen, ermordet, erschossen, die meisten von ihnen Jugendliche – sie habe seither viel für die Angehörigen gebetet, sagt Karen.

 

Drei verschiedene Zeichner versuchen im Gerichtssaal, diesen Mann auf Papier zu bannen – und mit ihm seinen Charakter

 

Danach versucht Norwegen zu verstehen, was da eigentlich passiert ist. Wer ist Anders Breivik? Ist er wahnsinnig? Ist er zurechnungsfähig? Drei verschiedene Zeichner versuchen im Gerichtssaal, diesen Mann auf Papier zu bannen, und mit ihm seinen Charakter. Einer davon sogar der bekannte norwegische Künstler Sverre Malling. Sie suchen seine Augen, versuchen ihm in die Seele zu blicken, aber er ist verschlossen.

 

Sverre Malling sah sein Vorhaben von Anfang an als Kunstprojekt. Die norwegische Zeitung Klassekampen nutzt für die Berichterstattung über den Prozess nur die Bilder von Malling. Ein Versuch, nicht der immer gleichen, sensationsheischenden Berichterstattungsweise anderer Blätter anheimzufallen, derer viele Norweger schnell überdrüssig wurden.

 

»Soviel Aufmerksamkeit hat er einfach nicht verdient – das ist doch genau das, was er wollte«, sagt Karen Jacobsen und schüttelt den Kopf. Alle Zeitungen und Fernsehsender sind voll von Berichten, Bildern, schematischen Darstellungen des Tathergangs – auf politischer und gesellschaftlicher  Ebene gibt es allerdings wenig Analysearbeit.

 

Norwegens Minister Jens Stoltenberg versucht so ruhig und angemessen zu reagieren, wie es in einer solchen Situation nur möglich ist – und am 22. Juli 2012, am ersten Jahrestag des Massakers verkündete er während der Trauerfeier auf der Insel Utoya: »Der Attentäter ist gescheitert, das Volk hat gewonnen.« Er habe es nicht geschafft, die Norweger ihrer traditionellen Werte und ihrer Toleranz zu berauben. Die Norweger ehrten die Toten, indem sie sich am Leben freuten.

 

Im Europa des 21. Jahrhunderts ist der Fremdenhass auf dem Vormarsch – und Norwegen macht hier keine Ausnahme

 

Aber im Europa des 21. Jahrhunderts ist der Fremdenhass auf dem Vormarsch – und Norwegen macht hier keine Ausnahme. Der norwegische Blogger und Radiomoderator Wakas Mir konstatiert: »Wenn nicht einmal eine solche Tragödie, die auch wegen des Hasses auf Einwanderer geschah, zu weniger Rassismus führt, dann bekommt man den Eindruck, dass nichts den Rassismus stoppen kann.«

 

Das ist auch die Sorge vieler Migranten und solcher, die dafür gehalten werden – wie Karen und ihre erwachsenen Kinder. Und die zwei Seelen, die in ihrer Brust wohnen, scheint sie an diesen Tagen deutlicher zu fühlen als sonst. »Ich bin stolz, Norwegerin zu sein – stolz auf mein Land, die Menschenrechte, die Frauenrechte, das sozialdemokratische System, darauf, dass hier jeder frei seine eigenen Entscheidungen treffen kann.«

 

Aber etwas müsse sich ändern, und die Migranten müssten selbstbewusster auftreten, wenn sie die Situation positiv beeinflussen wollten. Was die Norweger anbetrifft, sei sie sich nicht sicher, ob sie hier viel erwarten könne.   Am Freitag erwarten knapp 5 Millionen Norweger das Urteil im Fall Breivik – welches Urteil würde sie für gerecht halten? Hält sie den Attentäter für zurechnungsfähig?

 

«Ich wünsche ihm das höchste Strafmaß – fast wünschte ich mir, er würde in eine psychiatrische Anstalt gebracht, weil er immer wieder betont hat, dass das für ihn das Schlimmste sei. Gleichzeitig glaube ich aber nicht, dass er nicht zurechnungsfähig ist. Er muss das Höchstmaß, 21 Jahre, bekommen.« Vielleicht findet das skandinavische Land danach, ohne Medienzirkus, Zeit und Ruhe, um die Geschehnisse, die dann wenigstens äußerlich einen Abschluss finden, zu deuten. Noch ist es zu früh,  um zu sagen, wie das Attentat Norwegen verändern wird.

Von: 
Aus Oslo berichtet Ilhaam al-Qasem

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