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Libyer in tunesischen Krankenhäusern

Im Rollstuhl nach Tunis

Feature
Stadtpanorama Tunis, Tunesien
Foto: Daniel Gerlach

Trotz kostenloser Gesundheitsversorgung in ihrer Heimat lassen sich viele Libyer in Tunesien behandeln. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs kommen immer mehr Patienten aus dem Nachbarland – doch wer kommt für die Kosten auf?

Seine Arme sind bandagiert, die Beine von einem frischen Laken bedeckt: Nabil Gamal Naji Muftah ist Libyer und lässt sich in der Klinik »Hannibal International« in Berges du Lac, einem gehobenen Vorort von Tunis, behandeln. Wie Nabil reisen viele Libyer ins benachbarte Tunesien, um sich dort medizinisch versorgen zu lassen. Fünf Jahre ist es her, seit Nabil und sein älterer Bruder zusammen im Auto saßen. Sie waren auf dem Weg nach Hause, als ein Lastwagen auf sie zuraste. Zwar bremste der Fahrer und verhinderte so ein größeres Unglück, aber es war zu spät, um den Zusammenstoß zu verhindern.

 

Auf seinem Smartphone zeigt Nabil Fotos des zertrümmerten Autos. Eigentlich, sagten ihm die Ärzte, hätte er den Unfall nicht überleben können. Sein Bruder war nur leicht verletzt, doch bei Muftah diagnostizierten die Ärzte einen teilweise gebrochenen Halswirbel und die Beine und Arme seines Bruder vorübergehend gelähmt waren – und so folgten Operationen und Wochen im Krankenhaus.

 

Die Ärzte empfahlen ihm eine Klinik in Tschechien, in der man sich auf seine Verletzungen spezialisiert hatte. Der junge Libyer reiste in seinem Rollstuhl nach Prag und blieb für 15 Monate. Es folgte ein siebenmonatiger Aufenthalt in einer Spezialklinik in Polen, ehe er im Juli 2016 nach Hause zurückkehren musste. Nicht weil er geheilt war, sondern weil er kein Geld mehr hatte.

 

»Die Gesundheitsversorgung in Libyen ist kostenlos, aber schlecht. Also müssen wir nach Tunesien ausweichen.«

 

Zurück in Libyen weigerte sich Muftah, sich vor Ort in Behandlung zu begeben. »Wer hier ins Krankenhaus geht, fängt sich direkt am zweiten Tag eine bakterielle Infektion ein.« Muftah weiß, wovon er spricht. Er studierte zum Zeitpunkt des Unfalls bereits im sechsten Semester Medizin. »Das Personal ist oft unzureichend ausgebildet. Nur mit Glück erwischt man einen Arzt, der sein Handwerk versteht.« Und so blieb Muftah daheim, verzichtete auf Behandlung und Physiotherapie, und schluckte stattdessen Medikamente.

 

Obwohl sein Bruder Nabil sich Tag und Nacht um ihn kümmert, geht es Muftah immer schlechter. Die Schmerzen werden stärker und anderthalb Jahre nach dem Unfall gibt die abgestorbene Haut an den Beinen einen fauligen Geruch ab. Seine Familie greift ein – und lässt ihn eilig nach Tunis verlegen. »Die Gesundheitsversorgung in Libyen ist kostenlos, aber schlecht. Also müssen wir nach Tunesien ausweichen, um uns richtig behandeln zu lassen«, sagt Muftah.

 

Im Juli 2019 wird seine Hautinfektion fachgerecht behandelt. Es folgen Operationen am Rückenmark und den gelähmten Gliedmaßen. Armen, Händen und Rücken geht es inzwischen wieder besser, doch unterhalb der Hüfte fühlt er nur Krämpfe in Beinen und Füßen. » Tunesische Krankenhäuser verfügen über eine gute medizinische Ausstattung. Ärzte und Pflegekräfte sorgen dafür, dass man sich gut aufgehoben fühlt«, sagt Muftah. »Als ich ankam, um mir die Klinik anzuschauen und das Personal kennenzulernen, entschied ich mich sofort, mich hier behandeln zu lassen.«

 

Ghazi Jerbi ist Onkologe und Chefarzt der »Hannibal International«, er weiß um die Bedeutung des tunesischen Gesundheitssystems für die Region: »Tunesien war schon immer beliebt bei libyschen Patienten. Viele ausländische Patienten kommen gezielt in unsere Klinik.« Libyer, berichtet Ghazi, hätten oftmals keine Wahl. Der schlechte Zustand des eigenen Gesundheitssystems zwinge sie dazu.

 

Doch es sind nicht nur die besseren Bedingungen, auch die Nähe Tunesiens ist ein wichtiger Faktor. Das Nachbarland ist schnell zu erreichen, Sprache und Kultur sind ähnlich. Laut offizieller Statistik reisten bereits vor der Revolution 1,5 Millionen Libyer zur Behandlung nach Tunesien.

 

Der Umsturz von 2011 und der anschließende Bürgerkrieg haben die Lage verschärft. Die medizinischen Einrichtungen in Libyen waren mit den vielen Verletzten überfordert und konnten die meisten Patienten nicht entsprechend ihrer Bedürfnisse unterbringen. Und so kamen verwundete Libyer in Scharen nach Tunesien, wo Privatkliniken wie Pilze aus dem Boden schossen. Jeden Tag nahm die Klinik »Hannibal International« bis zu zehn Patienten aus Libyen auf. Der Andrang war so groß, dass das die Patienten sich Zimmer teilen mussten. Der Arzt vermutet, dass zwischen 2011 und 2014 rund 50 Prozent der medizinischen Einrichtungen in Tunesien sich ausschließlich um libysche Patienten gekümmert haben. Inzwischen sei die Zahl auf 20 Prozent gesunken.

 

Hinter dem Rückgang stecken wirtschaftliche Gründe. Seit 2015 kommen immer weniger Libyer, weil viele sich die Behandlung schlicht nicht mehr leisten können. Der libysche Dinar hat massiv an Wert verloren, die Inflation steigt und es ist schwierig, überhaupt an Bargeld zu gelangen. Laut Weltbank haben Libyens Haushalte rund 80 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt. Und so kommen viele Libyer nur noch für kurze Eingriffe nach Tunesien, meist ohne Familienbegleitung. Nach der Behandlung reisen sie dann oftmals direkt zurück. Unterkunft und Verpflegung sind zu teuer, gerade für Langzeitpatienten.

 

Auch der 23-jährige Mohamed Mahmud Salah lässt sich in der Klinik »Hannibal International« behandeln. Mohamed stammt aus Brega, nahe Benghazi, wo er als Zollbeamter lebte. Ende Januar wurde er mit einer Schusswunde am Bein eingeliefert. Zunächst wurde er in das 60 Kilometer entfernt liegende Krankenhaus von Ajdabiya gebracht. Dort sagten ihm die Ärzte, die zwei Kugeln seien glatt durch sein Bein gegangen und hätten nur eine Wunde hinterlassen. Sein Bein wurde behandelt und verbunden. »Es war ein großes, staatliches Krankenhaus in schlechtem Zustand und verfügte kaum über Ausstattung oder Medizin. Meine Familie musste selbst in eine Apotheke gehen und meine Medikamente besorgen«, erinnert sich Mohamed: »Und dann habe ich mir dort auch noch eine bakterielle Entzündung eingefangen.«

 

Um für die nun nötige Behandlung schnell nach Tunesien reisen zu können, musste er zu-nächst seinen Pass erneuern. Dann begleiteten ihn sein Bruder und ein Cousin auf die Reise. Die Ärzte in der Klinik stellten schließlich fest, dass die Entzündung so weit fortgeschritten war, dass die Schusswunde nicht operiert werden kann. Erst wenn die Infektion abgeklungen ist, kann Mohamed zurück nach Libyen reisen.

 

Im Dezember 2018 einigten sich schließlich die Gesundheitsministerien beider Länder auf einen Kostenplan. Umgerechnet 15 Millionen Euro wollte die Regierung in Tripolis überweisen. Doch reicht das?

 

Doch wer trägt die Kosten der libyschen Patienten? Eigentlich, sagt Mohamed, habe sich die libysche Regierung bereit erklärt, die Zahlungen zu übernehmen. Doch viele Rechnungen wurden nie beglichen. Auf rund 63 Millionen Euro schätzt der Pressesprecher der libyschen Botschaft in Tunis die Schulden seiner Regierung bei tunesischen Privatkliniken. Und so nehmen viele Krankenhäuser vorerst keine libyschen Patienten mehr auf.

 

Im Dezember 2018 einigten sich schließlich die Gesundheitsministerien beider Länder auf einen Kostenplan. Umgerechnet 15 Millionen Euro wollte die Regierung in Tripolis überweisen. Doch reicht das? »Libyen schuldet allein unserer Klinik fast 12 Millionen Euro«, schätzt Dr. Jerbi.

 

Immerhin: Muftah muss seine Behandlung nicht selbst bezahlen, das libysche Gesundheitsministerium sei eingesprungen. Seine Rehabilitationszeit, die nicht davon gedeckt ist, will er in Italien verbringen. »Wenn ich die Klinik verlasse, kann ich hoffentlich alles bewegen, was sich oberhalb meines Magens befindet. Dann werde ich mich um meine Beine kümmern und viel-leicht kann ich eines Tages wieder laufen«, sagt er. »Die Ärzte hier geben mir Hoffnung.«

Von: 
Alessandra Bajec

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