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Übergangsjustiz in Tunesien

Schluss machen muss sich lohnen

Feature
Tunesien, Freihandel mit der EU und Osteuropa
Der Zentralmarkt in der tunesischen Hauptstad Tunis Alexandre Moreau / Creative Commons Attribution-Share Alike

Tunesiens Polit-Elite fordert einen Schlussstrich unter der Vergangenheit und geißelt die Ineffektivität der Wahrheitskommission. Doch Korruptionskritiker befürchten, dass die Günstlinge des Ben-Ali-­Regimes die eigenen Pfründe retten wollen.

Sechs Jahre nach der Revolution hängt das System der Übergangsjustiz in Tunesien am Tropf. »Ich will so schnell wie möglich eine neue Seite aufschlagen und die Vergangenheit hinter uns lassen. Wir müssen von nun an nach vorne schauen«, erklärte Tunesiens Präsident Mohamed Beji Caid Essebsi in Bezug auf sein umstrittenes Amnestiegesetz, das dazu dient, Staatsbeamte zu schützen, die bereits unter dem Regime von Zine El Abidine Ben Ali dienten.

 

Inzwischen sehen sogar die Verfechter einer rigorosen Übergangsjustiz die Ende 2013 eingesetzte »Kommission für Wahrheit und Würde« (IVD) kritisch. »Sie ist hochpolitisch, ineffizient und nicht besonders transparent«, meint Achref Aouadi, Präsident der Anti-Korruptions-NGO »I Watch«. »Wir brauchen eine Debatte darüber, wie wir das Konzept der Übergangsjustiz retten können – oder was davon noch übrig ist. Denn der Prozess ist weder in den Händen der Regierung noch in denen der Wahrheitskommission gut aufgehoben.«

 

2016 erreichte der Prozess der Übergangsjustiz mit den ersten öffentlichen Anhörungen einen Meilenstein. Im Fernsehen und im Internet konnten die Tunesier erstmals verfolgen, wie Bürger detailliert und oft unter Tränen Foltermethoden und andere Menschenrechtsverletzungen beschrieben.

 

»Die Menschen waren erstmals mit ihrer schmerzlichen Vergangenheit konfrontiert und hörten die Schilderungen aus erster Hand, nämlich von den Opfern«, betont Salwa El Gantri, Leiterin der tunesischen Zweigstelle des »Zentrums für Übergangsjustiz« (ICTJ), die Bedeutung der Live-Übertragungen. Sie beschreibt die Anhörungen als »eine Art Urknall« für die tu­nesische Gesellschaft.

 

Doch nicht nur die Opfer fanden Gehör, auch die Täter kamen zu Wort. Imed Trabelsi, der Neffe von Präsidentengattin Leila Trebelsi, deren Familie das Land unter Ben Alis Herrschaft systematisch geschröpft hatte, schilderte das Korruptionsgeflecht, das die Wirtschaft des Landes durchzog. »Obwohl diese Klüngelei den meisten Tunesiern bekannt war, machte es doch großen Eindruck, einen der Beteiligten selbst darüber reden zu hören«, so El Gantri.

 

Präsident, Parlament und Regierung glänzten bei den Anhörungen durch Abwesenheit. »Es wäre eine einmalige Gelegenheit gewesen, um ihrer Unterstützung für den Wahrheitsfindungsprozess in Tunesien Ausdruck zu verleihen und ein Zeichen zu setzen«, erläutert El Gantri. So versagten führende Amtsträger dem Prozess nicht nur die Rückendeckung, sondern machten sich zugleich verdächtig: Essebsi diente sowohl unter Ben Ali als auch unter dessen Vorgänger Habib Bourguiba.

 

Die öffentlichen Anhörungen fielen zeitlich mit der Konferenz »Tunesien 2020« zusammen – für die Regierung eine Bühne, um für Investitionen zu werben und die Offenheit Tunesiens für neue Unternehmen zu demonstrieren. Aus den Reihen der Politik wurde damals der Vorschlag gestreut, die Anhörungen abzusagen – aus Angst, die Zeugenaussagen könnten die Investorenkonferenz negativ beeinflussen.

 

Salwa El Gantri sieht das anders. »Der Präsident und seine Familie agierten praktisch als Mafia, die das Land ausgebeutet hat. Wenn sich Tunesien nach der Revolution entschieden hätte, diese Wirtschaftsverbrechen zu verfolgen, hätte das signalisiert, dass hier Rechtssicherheit gewährleistet wird.«

 

Dass der Blick auf die Vergangenheit die Sicht auf die Zukunft versperren würde, ist das häufigste Argument, das Kritiker gegen den Prozess der Übergangsjustiz anführen. Andere räumen ein, dass ein paar faule Äpfel tatsächlich das System zu ihrem Vorteil missbraucht hätten und es daher einer umfassenden Bürokratiereform bedürfe – aber nicht einer langwierigen Aufarbeitung.

 

Tunesische Firmen außerhalb des ­Klüngels hoffen, von einer ­größeren Offenheit bei öffentlichen ­Ausschreibungen zu profitieren

 

Doch die wohl größte Herausforderung besteht darin, die Bevölkerung noch stärker zu sensibilisieren und miteinzubinden. Viele Tunesier zeigen entweder kaum Interesse am Prozess der Übergangsjustiz oder glauben, dass er sich auf Opfer und Täter unter den Regimen Ben Ali und Bourguiba beschränkt. Ein Gefühl für die gesamtgesellschaftliche Dimension der Aufarbeitung hat sich in der Bevölkerung noch nicht durchgesetzt.

 

Die schlechten Omen reißen damit nicht ab: Denn es gibt konkrete Anzeichen dafür, dass die Übergangsjustiz negative wirtschaftliche Folgen zeitigen kann. Vor der Revolution regulierte ein gut geöltes Prozedere die Erteilung von Zulassungen für Landerwerb und Fabrikbau – ab 2011 brach das System zusammen und das Chaos aus, erinnert sich Mouna Ben Halima. Die Geschäftsführerin des Luxushotels La Badira in Hammamet zeichnet nach, wie Beamte plötzlich anfingen, sich genau an die Vorschriften zu halten – weil sie Bestrafungen durch eine zukünftige Regierung fürchteten. »Sie haben dann einfach keine Entscheidungen mehr getroffen.«

 

Ausländische Investoren schreckten solche Dynamiken ab. So versiegten auswärtige Geld­quellen, die Arbeitsplätze hätten schaffen können. Und wohlhabende Tunesier investierten ihr Geld lieber im Ausland, anstatt in ihrem Heimatland neue Firmen zu gründen – nicht zuletzt, weil der bürokratische Stillstand jegliche Initiative abwürgte und das Kernproblem weiter bestand.

 

»Erpressungsartige Handlungsunfähigkeit« nennt Issandr El Amrani vom Thinktank »International Crisis Group« (ICG) diesen Zustand, der Präsident Essebsi dazu veranlasste, die Amnestie für Beamte Ende Oktober 2016 im Gesetz zu verankern. Ursprünglich war der Straferlass viel weiter gefasst und sollte auch Geschäftsleute vor juristischer Aufarbeitung abschirmen. Erst als Bürgerrechtsaktivisten und Oppositionspolitiker dagegen Sturm liefen, stimmte die Regierung zu, die Novelle lediglich auf Beamte anzuwenden.

 

Für die Gegner des Gesetzes geht dieses Zugeständnis nicht weit genug. Eine Amnestie ohne jeglichen Prozess widerspreche nicht nur den Grundsätzen der Revolution, sondern würde das Land wieder in das alte System zurückdrängen – in ebenjenes Geflecht, das Imed Trabelsi vor der Wahrheitsfindungskommission beschrieben hatte.

 

El Amrani hat durchaus Verständnis für die Notwendigkeit, die öffentliche Verwaltung wieder handlungsfähig zu machen. Doch eine bedingungslose Amnestie ohne Verpflichtung zu Reformen zur Korruptionsbekämpfung gliche einem Blanko­scheck. »Das Gesetz hätte Verantwortlichkeit und Transparenz festschreiben müssen«, meint der Experte

 

Essebsis Amnestiegesetz soll für Vertrauen in der Geschäftswelt werben. Doch gerade die Schieflage der demokratischen Institutionen sorgt für Unsicherheit. Dem Land fehlt noch immer ein Verfassungsgericht, das Beschlüsse der Exekutive anfechten kann. Eine Reihe zivilgesellschaftlicher Organisationen hat bereits verlautbaren lassen, dass das Amnestiegesetz ganz oben auf der Liste der Rechtsvorschriften steht, gegen die sie eine Verfassungsklage einreichen werden, sobald das Gericht seine Arbeit aufnimmt.

 

Bei »I Watch« gehen täglich Anrufe besorgter Geschäftsleute und Regierungsvertreter aus dem Ausland ein, die im Rahmen der vorgeschriebenen Sorgfaltsprüfungen über potenzielle Geschäftspartner Auskunft bei der Anti-Korruptions-NGO suchen. »Soll ich sagen: Der und der ist korrupt, aber ihm wurde Amnestie gewährt?«, fragt sich Achraf Aouadi. Ausländische Investoren könnten ein derartiges Risiko nicht eingehen, fährt er fort.

 

»Unsere Regierung versteht nicht, dass US-amerikanische und europäische Firmen nicht nur gegenüber den Regierungen der Länder Rechenschaft ablegen müssen, in denen sie ihren Unternehmenssitz registriert haben. Sie sind auf internationaler Ebene rechenschaftspflichtig, und deshalb muss man ihnen ein faires und wettbewerbsfähiges Umfeld bieten, in dem sie sicher investieren können.

 

Doch auch tunesische Firmen außerhalb des Klüngels hoffen auf wirksame Antikorruptionsmaßnahmen. »Vor der Revolution war es jungen Unternehmen fast unmöglich, ohne Beziehungen eine öffentliche Ausschreibung zu gewinnen«, meint Rabie Razgallah, CEO des Medizinsoftwareunternehmens DACIMA aus Tunis. Er hofft, dass innovative Sektoren wie die Medizintechnologie von einer größeren Offenheit bei öffentlichen Ausschreibungen profitieren werden.

 

Für diese Zukunftsfrage sei der Blick in die Vergangenheit unerlässlich, meint Aouadi von »I Watch«. Er sieht in der Übergangsjustiz eine Chance, die Seilschaften aus der Zeit Ben Alis zu entlarven und Tunesien künftig gegen rechtswidrige Praktiken bei Ausschreibungen und Auftrags- und Postenvergabe abzusichern. »Wir müssen verstehen, wo die Schlupflöcher sind, und sie auch stopfen. Ich will verstehen, wie Ben Ali Steuern hinterzog, wie er Geld ins Ausland transferierte – wie er damit durchkommen konnte.«

 

Der Abschlussbericht der »Kommission für Wahrheit und Würde« wird für Mai 2018 erwartet. Salwa El Gantri vom ICTJ hofft, dass er die öffentliche Debatte über den Nutzen von Übergangsjustiz und Aufarbeitung neu belebt. »Der Abschlussbericht dokumentiert schriftlich, was vorher niemand ausgesprochen hat, und ist für künftige Generationen einsehbar. Er wird die Bürger dazu ermutigen, von ihrer Regierung Rechenschaft einzufordern.« Doch was konkrete Reformen angeht, »brauchen wir auch den politischen Willen, ein Minimum der Empfehlungen umzusetzen«, ist sich El Gantri sicher, »insbesondere, wenn es darum geht, Wirtschaftsvergehen zu verfolgen«.

 

Ob des Stillstands steigt der Frust in der Bevölkerung. Bricht sich der Ärger nun in einem Aufstand Bahn, der die Ziele der Revolution aufs Neue einfordert, oder werden die Menschen den Demokratisierungsprozess verwerfen, solange ihnen eine Rückkehr zum Autoritarismus sichere Jobs in Aussicht stellt?

 

Ahmed Seddik, Parlamentarier und Fraktionsvorsitzender der linken »Front Populaire«, warnt, dass ohne Rechenschaft und Transparenz das Land »die gleichen Fehler, Auswüchse und Verbrechen der Vergangenheit wiederholen« wird. Zwar werde das Thema bei den Parlamentswahlen 2019 keine zentrale Rolle spielen, im Unterbewusstsein der Menschen bleibe die Frage nach einem gerechten Verteilungssystem aber präsent. »Instabilität in Tunesien wird immer die Folge von fehlender Aufarbeitung und Übergangsjustiz sein«, meint Seddik.

Von: 
Stian Overdahl

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