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Jacques Chirac, Frankreich und der Nahe Osten

Der letzte Freund der Araber

Nachruf
Jacques Chirac, Frankreich und der Nahe Osten
Jacques Chirac und US-Präsident George W. Bush: Den Irak-Krieg 2003 lehnte der damalige französische Präsident ab. www.whitehouse.gov

Warum der »politische Orientalismus« eines Jacques Chirac († 26. September 2019) heute gut für Europa wäre.

Wenn Europäer ohne Migrationshintergrund eine Leidenschaft für die arabische Welt ausprägen, legen sie sich beizeiten eine Ursprungslegende zu: ein prägendes Ereignis, einen Roman, eine glückliche oder unglückliche Liebe, mit der alles begann. Jacques Chirac, von 1995 bis 2007 französischer Staatspräsident und seit dem 26. September 2019 nicht mehr unter den Lebenden, war einer der wenigen bedeutenden Politiker Europas, die vom arabischen Orient begeistert waren und diesen nicht nur als Kopfschmerz, Krisenherd oder Absatzmarkt für Industrieprodukte wahrnahmen. Woher diese Zuneigung rührte und wie sie sich entfaltete, ist dabei alles andere als offensichtlich. Für Begeisterung braucht es vielleicht auch nicht immer einen praktischen Grund.

 

Chirac hat vielleicht reich geheiratet. Aus einer internationalen, weltläufigen Familie stammte er allerdings nicht, sondern aus dem zentralfranzösischen Département Corrèze, einer Gegend von sprichwörtlicher Provinzialität. Über Jahre seiner politischen Karriere befasste sich Chirac mit Agrarsubventionen und Arbeitsmarktpolitik sowie der Frage, wie lange die gesetzlich regulierte Mittagspause dauern soll.

 

Als Jugendlicher begeistert er sich für den Kommunismus, weshalb man ihm während seines Militärdienstes zunächst die Offizierslaufbahn verweigert. Dann, für einen ehemaligen Kommunisten eher ungewöhnlich, meldet er sich als Anhänger einer »Algérie française« 1956 freiwillig für den Einsatz im Algerienkrieg, engagiert sich später als Parteigänger des Präsidenten Charles de Gaulle und macht schnell Karriere als politischer Beamter unter dessen Nachfolger Georges Pompidou.

 

In dieser Zeit schließt Chirac eine denkwürdige Freundschaft mit einem arabischen Potentaten: Saddam Hussein, General, irakischer Vizepräsident. Beide Männer sind optimistisch und tatendurstig und sehen sich als Modernisierer.

 

Als Premierminister unter Valéry Giscard-d’Estaing entwickelt Chirac ein ausgeprägtes Interesse an Außenpolitik – ungewöhnlich, da der französische Premier für vieles zuständig ist, aber eher nicht für Außenpolitik. Die wird sonst im Außenministerium, dem Quai d’Orsay, sowie im Elysée-Palast des Präsidenten gemacht. In dieser Zeit schließt Chirac eine denkwürdige Freundschaft mit einem arabischen Potentaten: Saddam Hussein, General, irakischer Vizepräsident. Beide Männer sind optimistisch und tatendurstig und sehen sich als Modernisierer, Saddam hat bereits die Macht – Chirac strebt noch danach.

 

Saddam will sein Regime vom sowjetischen Einfluss emanzipieren – Chirac sieht die Gelegenheit für Frankreich, im Irak Fuß zu fassen und dabei noch französische Rüstungsgüter abzusetzen. Chirac treibt den Aufbau eines Leichtwasserreaktors am Tigris und den Export von Uran-Brennstoff voran. Während seines Frankreich-Besuchs 1975 lässt Chirac den Iraker im Chateau de Bity in Corrèze übernachten, das seit 1969 im Privatbesitz seiner Familie ist. Angeblich bot Chirac seinem Freund Saddam einen heimischen Wein an, was der Sunnit aus Tikrit dankend ablehnte.

 

In diese Zeit fällt auch der Beginn des französischen Engagements am Persischen Golf: Die traditionelle Schutzmacht Großbritannien hat die Golfstaaten in die Unabhängigkeit entlassen und die Fürstentümer machen jetzt ihre eigene internationale Politik. Laut Michel Duclos, ehemaliger französischer Spitzendiplomat unter Chirac, schließt dieser auch Freundschaft mit Scheich Zayed bin Sultan Al Nahyan – zum ersten Mal werden die Beduinen vom Golf von einem westlichen Regierungschef nicht mehr nur als exotische Klienten, sondern als Staatsmänner auf Augenhöhe wahrgenommen.

 

1977 wird Chirac Bürgermeister von Paris und interessiert sich plötzlich für Marokko. Auslöser ist ein Gendarme namens Michel Roussin, den Chirac vom Wachdienst seines ehemaligen Amtssitzes als Premierminister zu einem seiner engsten Mitarbeiter bei der Mairie macht. Roussin ist in Marokko geboren und schildert seinem Chef offenbar farbenreich, wie bedeutend und einflussreich der französische Jet-Set in Marrakesch für die französische Innenpolitik ist – und wie eindrucksvoll, oder auch freigiebig, König Hassan II. Bald schon ist der Bürgermeister von Paris im Palast der Alaouiden von Rabat ein gern gesehener Gast. Der marokkanische König stellt Chirac zahlreiche arabische Herrscher und einflussreiche Persönlichkeiten vor.

 

In Hassan II., der sein Königreich mit eiserner Hand regierte, muss Chirac eine Art machtpolitischen Mentor gefunden haben.

 

»Chirac redete ständig von Marokko«, sagte Jahre später Hubert Védrine, 1997-2002 Außenminister unter dem Präsidenten Chirac, im Gespräch mit einem Journalisten der Zeitung Le Monde. In Hassan II., der sein Königreich mit eiserner Hand regierte, muss Chirac eine Art machtpolitischen Mentor gefunden haben – er wird nach dem Tod des Monarchen 1999 sagen, er verdanke ihm die »Initiation« in die Komplexität der arabischen Welt. Chirac sah sich offenbar damals berufen, über den jungen Thronfolger Mohammed IV. zu wachen und ihm ebenfalls ein Mentor zu sein.

 

In die Zeit von Chiracs Präsidentschaft fallen einige dramatische Krisen und Erschütterungen der arabischen Welt, die wenig Muße zu orientalistischen Schwelgereien lassen: Im Sommer 1995, wenige Wochen nach Chiracs Vereidigung, wird Paris von einer Anschlagsserie erschüttert, darunter am 25. Juli das verheerende Attentat auf den RER-Bahnhof St. Michel mit 8 Toten und 117 Verletzten. Die dschihadistische »Groupe Islamique Armé«, die im algerischen Untergrundkrieg kämpft, gibt sich als Urheber zu erkennen und richtet sich in seiner Propaganda sehr gezielt gegen die Person Jacques Chirac – bis hin zur Forderung, der Präsident solle unverzüglich zum Islam konvertieren. Seit dieser Zeit ist in Frankreich das Sicherheitspaket »Vigipirate« in Kraft.

 

Chiracs Regierung verdächtigt aber offenbar auch Offiziere oder V-Leute algerischer Nachrichtendienste, bei Anschlägen in Frankreich die Finger im Spiel zu haben – wohl, damit Paris den Kampf der algerischen Militärs gegen die Islamisten vorbehaltlos unterstützt und Geld und Waffen liefert.

 

Ein Jahr später werden in Tibhirine, im Nordwesten Algeriens, die Leichen sieben ermordeter französischer Trappisten-Mönche aufgefunden – eine Tat, die die französische Öffentlichkeit in besonderem Maß erschüttert. Chirac selbst entgeht einmal einem Attentatsversuch – während der Militärparade zum Nationalfeiertag am 14. Juli 2002. Der Beschuldigte ist allerdings kein Islamist, sondern ein französischer Neonazi.

 

Als Präsident erlebt Chirac: Israels Abzug aus dem Südlibanon 2000, Die Anschläge von Al-Qaida auf zwei US-Botschaften in Ostafrika 1998, den 11. September 2001 und seine Folgen, den Einmarsch in Afghanistan, die zweite Intifada und den Irak-Krieg 2003.

 

Chirac mag interessiert an anderen Kulturen sein und aufgeschlossen gegenüber dem Islam und der arabischen Welt. Das hindert ihn aber nicht daran, wenn es politisch opportun erscheint, Stereotypen über muslimische Migranten zu verbreiten – etwa bei seiner stark kritisierten, »le bruit et l’odeur – Der Lärm und der Geruch« genannten Rede 1991 in Orléans.

 

Als Präsident erlebt Chirac: Israels Abzug aus dem Südlibanon 2000, Die Anschläge von Al-Qaida auf zwei US-Botschaften in Ostafrika 1998, den 11. September 2001 und seine Folgen, den Einmarsch der Koalition in Afghanistan, die zweite, bewaffnete Intifada 2000-2005 mit über 4.000 Opfern und dem Tod Arafats, der ihn »Doctor Chirac« nannte, in Frankreich. Und natürlich der Irak-Krieg 2003, dem sich Chiracs Regierung widersetzte.

 

Während seiner Amtszeit gehen in den Palästen von Nahost und Nordafrika Generationenwechsel vonstatten: darunter Katar, Marokko, Jordanien, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Syrien, das zwar keine Monarchie ist, aber dennoch den Sohn des verstorbenen Herrschers zum Präsidenten macht. Chirac nimmt 2000 als einziger westlicher Staatschef an der Bestattungsfeier von Hafiz Al-Assad teil – und setzt einige, vergebliche Hoffnungen in dessen Sohn Baschar.

 

Über den Irak-Krieg mag sich Chirac mit den Amerikanern überwerfen. Zu Libanon und Syrien aber stimmt er sich eng mit dem Weißen Haus ab. Chirac pflegt eine herzliche persönliche Beziehungen zum Tycoon und mehrfachen libanesischen Premierminister Rafiq Hariri, der sich zunehmend selbstbewusster gegen die Einmischung der syrischen Protektoratsmacht zur Wehr setzt und dafür mutmaßlich am 14. Februar 2005 einem Attentat zum Opfer fällt.

 

Chiracs persönliche Verbitterung über den Mord an seinem Freund Hariri und seine gaullistische Realpolitik hielten sich offenbar die Waage.

 

Chirac nimmt Nahostpolitik offenbar persönlich, im guten wie im schlechten Sinn. Frankreich wurde hernach eine der treibenden Kräfte, um die syrische Besatzung zu beenden. Das Verhältnis zwischen Chirac und dem Haus Assad ist persönlich zerrüttet, Baschar eine persona non grata in Paris. Dennoch weist der Präsident Michel Duclos, einen seiner Top-Diplomaten, einige Jahre später an, die Beziehungen nach Damaskus wieder zu kitten. Chiracs persönliche Verbitterung über den Mord an seinem Freund Hariri und seine gaullistische Realpolitik halten sich offenbar die Waage.

 

Legendär: Chiracs Wutanfall vor laufenden Kameras am 22. Oktober 1996 während eines Staatsbesuchs in Jerusalem, als das israelische Sicherheitsprotokoll ihn nicht zu einer Gruppe arabischer Altstadtbewohner vordringen lassen will. Israels damals noch frischer Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, nicht gerade für seine Demut bekannt, schickt ein Entschuldigungsschreiben.

 

Im September 2000, kurz nach Beginn der durch einen Besuch des israelischen Politikers Ariel Scharon auf dem Tempelberg ausgelösten Zweiten Intifada, zeigt sich Chirac schockiert von den Fernsehbildern über den kleinen Mohammed Durra: ein zwölfjähriger Junge aus dem Gaza-Streifen, der weinend hinter seinem Vater im Kugelhagel kauert. Er habe noch nie erlebt, dass ein politischer Mensch sich in seiner Haltung derart festlege, weil er etwas im Fernsehen gesehen habe, sagt später ein indignierter israelischer Premier Ehud Barak, der von Chirac etwas zu hören bekommen hatte.

 

Israelische Kritiker wiederum erinnern den französischen Präsidenten gelegentlich daran, dass er maßgeblich am Aufbau eines irakischen Forschungsreaktors für Atomwaffen beteiligt war, den die Israelis 1981 präventiv bombardiert hatten.

 

So intensiv und mitunter leidenschaftlich Chirac sich mit der arabischen Welt befasste, so gestört war sein Verhältnis zur Islamischen Republik Iran.

 

Kann man ihm vorwerfen, dass er parteiisch ist, gar so wie manche »Arabisten« in der internationalen Politik, ein anti-israelisches Ressentiment ausprägt, oder sich zumindest nicht im gleichen Maß um die Belange des jüdischen Volkes kümmert? Bei der jüdischen Gemeinde in Frankreich wiederum erwirbt Chirac sich Anerkennung dadurch, dass er, als erster französischer Präsident die Kollaboration des Staates Frankreich mit dem nationalsozialistischen Deutschland bei der Judenvernichtung eingesteht: 1995, mit seiner berühmten Rede zum Gedenken an die Razzia des Pariser Wintervelodroms von 1942.

 

So intensiv und mitunter leidenschaftlich er sich mit der arabischen Welt befasst, so gestört ist sein Verhältnis zur Islamischen Republik Iran. »Chirac tummelte sich in einer sunnitischen Welt«, sagt Ex-Diplomat Duclos, Iran und die Schiiten seien ihm eher fremd geblieben.

 

Als Premierminister unter Francois Mitterand (1986-1988) hat Chirac hauptsächlich mit Verhandlungen um französische Geiseln zu tun, die von der Hizbullah oder anderen Iran nahestehenden Untergrundgruppen entführt wurden. Als Fürsprecher für Waffenlieferungen an Saddam Hussein trägt Chirac eine gewisse Mitverantwortung für iranische Opfer im Iran-Irak-Krieg während der 1980er Jahre. Die extremistischen, aber regimefeindlichen iranischen Volksmudschaheddin haben zwischenzeitlich sogar in Frankreich ihr Exilhauptquartier eingerichtet. Ein Terroranschlag auf der Pariser Rue de Rennes am 17. September 1986 und die »Affäre Gordji« um einen angeblich in die Tat verwickelten Botschaftsmitarbeiter führen zu erheblichen Spannungen innerhalb der französischen Regierung.

 

Allerdings ist es schließlich Chirac, der 2003 – unter dem Eindruck des Irakkriegs und der Fantasien eines George W. Bush, den ganzen Nahen Osten militärisch umzukrempeln – seinen Außenminister Dominique de Villepin nach Teheran expediert. Dieser soll gemeinsam mit seinen britischen und deutschen Amtskollegen, Jack Straw und Joschka Fischer, Gespräche über das iranische Atomprogramm einleiten. Man könnte diesen Schritt als Anfang der Verhandlungen um den 2015 geschlossenen Atomdeal (JCPOA) betrachten – der bis vor kurzem noch als einer der größten Erfolge europäischer Diplomatie galt.

 

Chirac war Verfechter eines in Europa verankerten Multilateralismus und insbesondere in seinen Jahren als Präsident auch emotional der arabischen Welt verbunden.

 

Jacques Chirac war gewiss kein leidenschaftlicher Verfechter von Menschenrechten oder Zivilgesellschaft in der arabischen Welt. Seine Gesprächspartner waren autoritäre Potentaten. Aber er war der erste französische Präsident nach dem Kalten Krieg und Verfechter eines in Europa verankerten Multilateralismus – ein Begriff, der heute wieder sehr en vogue ist in der Außenpolitik – und, insbesondere in seinen Jahren als Präsident, auch emotional der arabischen Welt verbunden.

 

Bedenkt man, welche Bedeutung diese Region heute für das Wohlergehen und die Sicherheit Europas hat, müsste man ein solches gesteigertes Interesse wohl als Einstellungskriterium für europäische Spitzenpolitiker betrachten. Was nach Chirac kam – ob in Frankreich oder Deutschland – waren Regierende mit einem eher geschäftlichen, in jedem Fall aber vollkommen leidenschaftslosen Verhältnis zu dieser Region.

 

In seinen späteren Jahren rücken die Kulturen für Chirac immer stärker in den Mittelpunkt – auch in seinen außenpolitischen Erwägungen. Das französische Museum für außereuropäische Kunst, das Musée du Quai Branly, wurde das Denkmal seiner Präsidentschaft.

 

Im Februar 2003 bezeichnete der ägyptische Autor und ehemalige Korrespondent der Zeitung Al-Ahram in Paris, Ahmed Youssef, die Haltung Chiracs als »orientalisme politique«, was aber durchaus als Kompliment gemeint war. Chirac habe sich nicht nur mit der arabischen Welt auf Augenhöhe begeben, sondern ihre Eigenschaften angenommen. »Chirac fasziniert die Orientalen, weil er ihren Prinzen ähnelt«, schrieb Youssef. »Er hat ihre emotionale Intelligenz, ihre zerstörerische Spontaneität, ihre Fähigkeit, in Krisenzeiten als Retter aufzutreten, und ihren Narzissmus, der jedes ihrer Worte und jede ihrer Gesten ein wenig unsterblich erscheinen lässt.« Der Autor hoffte damals noch, dass Chirac den alten Nahen Osten erhalten, womöglich sogar den amerikanischen Angriff auf den Irak verhindern würde. Das aber gelang Prinz Jacques, dem letzten Freund der Araber, nicht.

Von: 
Daniel Gerlach

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