Lesezeit: 12 Minuten
Interview mit Syrien-Expertin Bassma Kodmani

»Russland hielt Assad schon immer für inkompetent«

Interview
Interview mit Syrien-Expertin Bassma Kodmani
Bassma Kodmani zu Gast beim »Berlin Foreign Policy Forum« der Körber-Stiftung

Im Interview erklärt Syrien-Expertin Bassma Kodmani, was wirklich hinter dem Streit zwischen Baschar Al-Assad und seinem Cousin Rami Makhlouf steckt – und warum sich Europa Moskaus Unzufriedenheit zunutze machen sollte.

zenith: Seit Anfang Mai hat der Geschäftsmann und Syriatel-Chef Rami Makhlouf seinen Cousin Baschar Al-Assad in einer Reihe von Videos öffentlich kritisiert. Warum gehen die Bewertungen über die Tragweite dieses Zwists so auseinander?

Bassma Kodmani: Alles, was interne Streitigkeiten innerhalb der syrischen Herrscherfamilie betrifft, ist reine Spekulation. Wir haben kaum Zugriff auf belastbare Informationen und Mitglieder des inneren Machtzirkels reden nicht über solche Angelegenheiten. Daher beruhen die Analysen der Situation auf geringem Wissen über das, was tatsächlich vorgefallen ist. Dennoch glaube ich, dass der Konflikt zwischen Baschar Al-Assad und Rami Makhlouf vom syrischen Regime durchaus als ernsthafte Angelegenheit wahrgenommen wird.

 

Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Einige objektive Faktoren legen das nahe. Zuallererst müssen wir den Kontext in Betracht ziehen: Der syrische Staat ist pleite – er leidet unter Sanktionen, ausländische Investoren machen einen großen Bogen um Syrien und die geringen Hilfsmittel reichen nicht einmal, um die unmittelbare Anhängerschaft des Regimes zu versorgen. Und dieser letzte Punkt ist enorm relevant: Assad interessiert sich momentan nicht dafür, ob die Menschen in Daraa oder Ghuta hungern, aber er ist auf diejenigen angewiesen, die ihn unterstützten, die für das Regime kämpften und die Opfer für die Herrscherfamilie brachten. Daher muss er für diese Leute sorgen und sich ihre Unterstützung sichern. Aus dieser Perspektive wird besonders klar, wie dringend Assad momentan Geld braucht.

 

Wie passt Makhlouf hier ins Bild?

Jede Unterstützung für die syrische Bevölkerung, die von anderer Stelle kommt, bedeutet eine Konkurrenz für Assads Popularität und Einfluss. Der Machtkampf geht auf das Jahr 2000 zurück. Als Baschar Al-Assad damals Präsident wurde, war seine Legitimität innerhalb der Herrscherfamilie umstritten, weshalb er Schwierigkeiten hatte, seine Macht zu konsolidieren – sowohl die Makhloufs, als auch Assef Shawkat und seine eigene Schwester Buschra Al-Assad stellten ihn in Frage.

 

»Das soziale Standing der Makhloufs war früher einmal viel bedeutender als das der Assads«

 

Wie reagierte Baschar Al-Assad damals auf diese Vertrauenskrise innerhalb der eigenen Familie?

Ich denke, dass Assad während dieser Zeit einen Deal eingegangen ist: Die Makhlouf-Familie sollte ihn unterstützen und beraten sowie seinen gesellschaftlichen Rückhalt innerhalb der eigenen Community organisieren. Im Gegenzug durften die Makhloufs die Wirtschaft steuern und Reichtum anhäufen. Um es konkret zu machen: Die politische Macht und militärische Stärke im syrischen Staat liegt in den Händen der Assads, während die Wirtschaft maßgeblich von den Makhloufs bestimmt wird.

 

Geriet dieses Arrangement aus den Fugen?

Während des Krieges vermischten sich diese Zuständigkeiten, als Rami Makhlouf Milizen finanzieren sollte, die für Assad kämpften. Im Kontext ihrer aktuellen ökonomischen Probleme betrachten der Präsident und seine Frau das von den Makhloufs erworbene Vermögen nun als Staatseigentum und wollen zumindest auf einen großen Teil davon zugreifen. Diese Grundeinstellung bedroht nun den Deal und löste den innerfamiliären Konflikt aus.

 

Geht dieser Konflikt über den Zugriff auf Ressourcen hinaus?

In traditionellen Gesellschaften spielt die soziale Positionierung innerhalb der eigenen Gemeinschaft eine große Rolle. Das soziale Standing der Makhloufs war früher einmal viel bedeutender als das der Assads – eine Tatsache, die sich auch in der Heirat Hafez al-Assads mit Anisa Makhlouf widerspiegelte. Es könnte nun sein, dass Baschar Al-Assad sich nicht nur um seine finanzielle Handlungsfähigkeit sorgt, sondern auch Angst hat, die Unterstützung und den Einfluss innerhalb der eigenen Community zu verlieren.

 

Einige Kommentatoren ziehen auch eine Verbindungslinie zwischen diesem familiären Konflikt und der Haltung Russlands. Wie sehen Sie das?

Ich sehe keine belastbare Grundlage, die darauf hindeuten würde, dass Russland hinter Assads Umgang mit seine Cousin steckt. Dennoch entspricht sein Vorgehen – der Versuch, an Gelder zukommen – auch russischen Interessen in Syrien. Moskau möchte irgendwie wieder normales Leben in Syrien ermöglichen und setzt daher alles daran, dass wieder Gelder ins Land fließen – dies ist auch der Grund, warum Russland so wütend über die internationalen Sanktionen ist. Moskau will demonstrieren, dass Assad dieses Land auch regieren kann, nachdem er militärisch siegreich hervorgegangen ist.

 

»Assad versucht Teheran und Moskau gegeneinander auszuspielen«

 

Welche Interessen verfolgt Moskau ansonsten in Syrien?

Russland ist kein homogener Akteur. Die Syrien-Politik des Landes wird von einer ganzen Reihe unterschiedlicher Gruppen beeinflusst – von Militärs, dem Establishment aus dem Verteidigungsministerium, Geheimdiensten und nicht zuletzt der russischen Wirtschaft. Diese Akteure verfolgen teils sehr unterschiedliche Interessen, was Syrien betrifft, wodurch es schwierig ist, eine einheitlich russische Linie auszumachen. Und genau das könnte durchaus auch eine Erklärung für Rami Makhloufs Kritik an Assad sein: Vielleicht fühlte er sich von einigen dieser russischen Akteure bestätigt, beispielsweise seitens einflussreicher Geschäftsleute.

 

Manche vergleichen den Konflikt zwischen Baschar und Rami mit den Streitigkeiten, die Hafez Al-Assad in den Jahren 1985 und 1986 mit seinem Bruder Rifaat austrug. …

… Der große Unterschied ist jedoch, dass Assad und sein Bruder damals das gesamte Land, die Geheimdienste, das Militär und sogar die paramilitärischen Einheiten unter ihrer Kontrolle hatten. Heute sieht das ganz anders aus: Die militärische Kontrolle über Syrien teilen sich Russland und Iran. Dadurch ist es viel schwieriger für Baschar, einfach die Kontrolle an sich zu reißen und seinen Widersacher auszuschließen – wie sein Vater Hafez es in den 1980ern tat. Dafür müsste der Präsident nämlich militärische Gewalt einsetzen. Doch die bewaffneten Gruppen in Syrien stehen nicht unter einheitlichem Kommando, weshalb Assad für ein solches Vorgehen die volle Unterstützung aus Russland oder Iran bräuchte. Danach sieht es derzeit nicht aus. Deswegen können die Cousins zwar über Geld streiten, doch eine Lösung des Konflikts mittels Gewalt scheint unwahrscheinlich.

 

In einem kürzlich veröffentlichten Artikel schreiben Sie, dass »Russland seine Ungeduld mit Assad inzwischen öffentlich zum Ausdruck bringt«. Welchen Einfluss hat Moskaus Haltung auf die Lage in Syrien?

Ich habe zwar den Begriff »Ungeduld« verwendet, aber bewusst nicht davon gesprochen, dass Russland Assad aufgegeben hat. Moskau braucht Assad – nicht, weil man ich mag, im Gegenteil, man hat ihn immer für dumm und inkompetent gehalten.

 

Wie kam man in Moskau zu dieser wenig schmeichelhaften Einschätzung?

Er hat Russland in einen Konflikt hineingezogen, der vollkommen eskaliert ist – die Russen hassen alles, was Assad getan hat. Aber in ihren Augen ist der Dummkopf, der die Krise nicht handhaben konnte, nun ein nützliches Werkzeug. Moskau braucht Assad, um die notwendigen Unterschriften zu setzen – Russland will Phosphat und Erdgas, aber auch einen Hafen im Mittelmeer, militärische Stützpunkte in Syrien und enge wirtschaftliche Beziehungen. All das kann Assad den Russen bieten. Doch sobald es darum geht, dass Assad politische Zugeständnisse machen soll, wird Putin auf Granit beißen – in diesem Punkt versucht Assad Teheran und Moskau gegeneinander auszuspielen.

 

»Die EU und Russland könnten gemeinsam die Verteilung von Hilfsgütern durch zuverlässige syrische Akteure organisieren«

 

Richtet sich Moskaus Ärger auch gegen Teheran?

Russland Kritik über mehrere staatlich kontrollierten Medienkanäle gilt sowohl Damaskus als auch Teheran. Putin möchte die Iraner daran erinnern, dass sie 2015 um russische Luftunterstützung bettelten, als sie nicht mehr im Stande waren, Assad zu verteidigen. Die klare Botschaft lautet daher, dass Russland hier am längeren Hebel sitzt: Ohne Luftunterstützung und die russische Präsenz auf syrischem Boden wäre Assad nicht mehr an der Macht.

 

Und welche Botschaft sendet Moskau an Assad?

Wenn wir politische Reformen einfordern, dann hast du die auch umzusetzen. Immerhin haben wir deine Haut gerettet. Du kannst dich jetzt nicht von der Strategie abwenden, die dein Überleben sichert, denn es nicht mehr deine Strategie – es ist unsere Strategie und im Moment ruinierst du sie – Ich denke, das ist eine ziemlich eindeutige Ansage. Mittelfristig könnte dies auch bedeuten, dass Russland Assad fallen lässt – doch definitiv noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Selbst wenn Putin bereits die Entscheidung getroffen haben sollte, Assad aus dem Weg zu räumen, würde er dennoch Zeit brauchen, um einen organisierten Machtwechsel einzufädeln. Aber ich bin nicht optimistisch, dass Putin sich bereits in dieser Richtung entschieden hat.

 

In dem bereits erwähnten Artikel schreiben Sie auch, dass es an der Zeit ist, »dass Europa seine Haltung zu Syrien mit mehr Selbstbewusstsein durchsetzt«. Welche Rolle könnte und sollte Europa jetzt spielen?

Ich glaube, dass die Europäer nach wie vor unter ihren Möglichkeiten bleiben – sie unterschätzen ihre eigenen Fähigkeiten und Druckmittel. Dafür gibt es viele Gründe, doch für die aktuelle Situation möchte ich dies an einem Beispiel verdeutlichen: Russland hat all seine Glaubwürdigkeit in die Waagschale geworfen, um ein Deeskalationsabkommen für Regionen wie Ghuta im Umland von Damaskus zu erreichen. Doch nun diskriminiert Damaskus bei der Verteilung der humanitären Hilfsgüter dort, indem diejenigen bestraft werden, die sich gegen Assad gestellt haben, während die Häuser der Regimetreuen wiederaufgebaut werden. Russland ist wütend darüber, denn Putin möchte diese Regionen eigentlich neutralisieren – die Menschen dort sollen aufhören, sich gegen Assad zu stellen.

 

Wie kann Europa an dieser Stelle ansetzen?

Das ist nur ein Beispiel dafür, wie frustriert Russland über Assads Verhalten ist. Daher sollten die Europäer genau solche Themen in die Vereinten Nationen tragen. Wenn Russland selbst die Diskriminierung bei der Verteilung der Hilfsgüter durch Assad bemängelt, warum sollte es dann weiter darauf bestehen, dass alle humanitäre Hilfe über Damaskus abgewickelt wird? Warum verhindern die Russen dann weiterhin grenzüberschreitende Hilfeleistungen? Die Europäische Union und Russland könnten gemeinsam die Verteilung von Hilfsgütern durch zuverlässige syrische Akteure organisieren, wenn Putin Assad dazu bringt, syrische Entwicklungshelfer nichtmehr zu verhaften. Auf diese Weise könnte es den Europäern eventuell gelingen, einen Handlungsspielraum für internationale Organisationen und NGOs herauszuschlagen, um Hilfsgüter unter besseren Bedingungen ins Land zu schaffen und zu verteilen.

 

»Haben wir bisher irgendeine Form der Verhaltungsänderung beobachten können? – Rein gar nichts!«

 

Sollte die EU also nicht mehr direkten Druck auf Assad ausüben?

Das ist Zeitverschwendung. Eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche versteht das Regime nicht – bisher hat er immer das Zuckerbrot genommen und die Peitsche einfach ignoriert, bereits lange vor Beginn der Proteste 2011. Daher muss Europa mit Russland zusammenarbeiten und nicht mit Assad – Europa muss Putin für Assads Taten verantwortlich machen.

 

Also widersprechen Sie dem weitverbreiteten Narrativ, es führe kein Weg daran vorbei, mit Assad zusammenzuarbeiten?

Ich finde, wir sollten ehrlich zu uns sein. Die Frage kann nicht lauten: Sollten wir mit Assad kooperieren? Vielmehr muss der Satz weiter gehen: Sollten wir mit Assad kooperieren, während er weiterhin dieselben Methoden anwendet? Diejenigen, die sich für eine Zusammenarbeit mit diesem Mann aussprechen, werden sein Verhalten nicht ändern können – das hat er eine Million Mal bewiesen. Sollten wir ihn daher wirklich mit diplomatischen Beziehungen, finanzieller Unterstützung und Geldern für den Wiederaufbau belohnen, während er immer noch Entwicklungshelfer, Rückkehrende und friedliche Aktivisten einsperrt? Sollen wir mit einem Mann kooperieren, der weiter foltert und tötet? Haben wir bisher irgendeine Form der Verhaltungsänderung beobachten können? – Rein gar nichts!

 

Glauben Sie, dass Europa eine Verhaltungsänderung in Moskau erwirken könnte?

Russland ist ein rationaler Akteur und, anders als Assad, nicht ausschließlich an persönlicher Bereicherung und dem eigenen Machterhalt in Syrien interessiert, selbst wenn das Land in Schutt und Asche liegt. Russland trifft strategische Erwägungen und ist somit ein ernsthafter Gesprächspartner. Aus diesen Gründen denke ich, dass eine Zusammenarbeit mit Putin sich als deutlich zielführender erweisen kann als eine Fortführung des bisherigen Umgangs mit Assad.

 

Sehen Sie aktuell den politischen Willen oder vielleicht sogar Bemühungen auf Seiten der größeren EU-Mitgliedsländer, eine solche Strategie zu verfolgen?

Innerhalb der Europäischen Union finden sich sehr unterschiedliche Positionen, was die Implementierung einer solchen Linie verkompliziert. Europäische Entscheidungsfindung zu Syrien fällt bisher stets auf den kleinsten gemeinsam Nenner zurück: Humanitäre Hilfsleistungen könnten unter diesen Bedingungen nicht zur Verfügung gestellt werden, und aus rechtlicher Sicht müsste man sich daher dem humanitären Völkerrecht beugen. Auf diese Weise werden die politischen Fragen schlich umgangen.

 

»HTS erhofft sich in Idlib die Kontrolle über die Grenzübergänge«

 

Und wenn sich zumindest Berlin, Paris und London auf eine gemeinsame Linie verständigen?

Ich denke, dass Frankreich, Deutschland und Großbritannien – trotz des Brexits nimmt der britische Syrien-Beauftrage immer an den entsprechenden Sitzungen teil – eine sehr ähnliche Linie verfolgen und sich auch bewusst sind, was getan werden müsste. Doch das Problem sind andere europäische Staaten, die entweder unter russischem Einfluss stehen, eigene Interessen verfolgen und ganz naiv davon ausgehen, es gäbe keine anderen Handlungsmöglichkeiten. Mein Eindruck ist, dass die Europäische Union mit dem Finger auf andere zeigt und selbst nichts tut.

 

Welcher Weg führt aus dieser Sackgasse?

Ich fordere die europäischen Staaten auf, mit Russland ins Gespräch zu kommen. Putin kann Assad dazu bringen, die Beobachtung der Situation in Syrien durch Beamte der Vereinten Nationen zuzulassen. Syrer, die internationalen Organisationen Bericht erstatten, müssen die Bedarfslage analysieren, die Hilfsgüter verteilen und deren Auswirkung evaluieren können – der gesamte Prozess humanitärer Hilfsleistungen muss kontrollierbar werden.

 

In Idlib scheint die dschihadistische Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS) die Kontrolle zu verlieren und seine früher Kooperation mit der Türkei zu überdenken, wie eine kürzlich veröffentlichte Audioaufnahme suggeriert. Wie nehmen Sie die aktuelle Situation in Idlib wahr?

Ich denke, dass HTS momentan die Türkei erpresst, indem die Gruppe droht, die Waffenruhe zu brechen. Davon erhoffen sich die Dschihadisten beispielsweise die Kontrolle über Grenzübergänge – ein überlebenswichtiger Faktor aus Sicht von HTS. Vor weniger als einem Monat wollte die Gruppe einen Checkpoint zum Gebiet unter Kontrolle des syrischen Regime im Süden öffnen, doch die Bevölkerung in Idlib protestierte massiv dagegen und machte den Plan zunichte. HTS ist momentan nicht mehr primär daran interessiert, die syrische Regierung bekämpfen. Wichtigstes Ziel der Gruppe ist es, die Gebiete unter ihrer Kontrolle zu verwalten, und dafür benötigen die Dschihadisten vor allem Geld und wirtschaftliche Beziehungen – ein Schritt dahin wäre die Kontrolle über relevante Checkpoints. Alle in Idlib wissen, dass HTS nicht ohne die Unterstützung der anderen bewaffneten Gruppen kämpfen kann. Solange sich diese anderen Milizen daher an den Waffenstillstand halten, bezweifle ich, dass HTS mehr ausrichten kann, als ein paar Selbstmordanschläge entlang der Front zu verüben.

 

Verliert die Türkei nicht langsam die Geduld mit HTS?

Falls die Türkei tatsächlich entscheiden sollte, dass die Zeit gekommen ist, den Dschihadisten in Idlib den Garaus zu machen, wird eine Konfrontation unabwendbar sein. Doch diese Entscheidung wurde bislang nicht gefällt. Ich glaube, dass die Türkei bisher aus politischen Gründen nicht daran interessiert ist, eine endgültige Strategie zur Beseitigung von HTS zu implementieren. Unabhängig davon, dass solch eine Operation kein einfaches Unterfangen wäre und multilaterale Zusammenarbeit erfordert. Denn in Idlib braucht es einen ganzheitlichen Ansatz – es ist unrealistisch, einfach die Türkei darum zu bitten, sich endlich der Dschihadisten zu entledigen.

 

»Ich würde zuerst mit dem Wiederaufbau der Kernfunktionen des Staates beginnen: Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Gerichte als Gegenpol im Machtgefüge und Sicherheit für die Bevölkerung«

 

Wächst denn auch der Handlungsdruck auf Seiten von HTS?

HTS ähnelt mehr und mehr dem »Islamischen Staat« (IS). Die Gruppe verliert zunehmend an Unterstützung in der Gesellschaft – die Dschihadisten regieren immer totalitärer und repressiver. HTS muss zunehmend auf Einschüchterung und Gewalt zurückgreifen und schränkt den Raum für gesellschaftliches Leben auf entsetzliche Art ein.

 

Wie lässt sich diesen Verhältnissen Einhalt gebieten?

Das Vorgehen gegen HTS erfordert eine ganzheitliche Strategie. Wir müssen dabei die diverse Zusammensetzung der Gruppe berücksichtigen: Die einen sind ideologisch motivierte Hardcore-Dschihadisten, während andere schlicht finanziell von HTS abhängen. Die einen stammen selbst aus Syrien, während andere als ausländische Kämpfer nach Idlib kamen. Neben dieser Differenzierung muss eine Strategie in Idlib außerdem die Mobilisierung der Bevölkerung vor Ort beinhalten. Ich bin überzeugt, dass die russische Strategie der vergangenen Monate überhaupt keine Ergebnisse zeitigen wird – HTS wird auch in zehn Jahren noch in Idlib agieren, wenn die Gruppe nur aus der Luft bombardiert wird. Ein ganzheitlicher Ansatz muss hingegen am Boden beginnen, auf die Bevölkerung bauen können und mit gezielten militärischen Einsätzen »on the ground« vorgehen – die Bombardierung verbleibender Mitglieder des harten Kerns von HTS kann nur eine begleitende Rolle spielen.

 

Was wäre in Ihren Augen ein realistisches Best-Case-Szenario für Syrien in fünf Jahren?

Am wichtigsten ist es, dass das Land nicht zerfällt – momentan steht die Zukunft Syriens als Nationalstaat auf dem Spiel. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir klar definieren, welches politische System, welche Verwaltungsstruktur des Territoriums, welcher Gesellschaftsvertrag und welcher ökonomische Plan für den Wiederaufbau vonnöten sind. Und selbstverständlich muss das zentrale Anliegen sein, die syrische Gesellschaft zurückzubringen – alle reden vom Staat, vom Regime und vom Land, aber ich höre sehr selten das Wort »Gesellschaft«. Jede Regierung, die keine Antwort auf diese Frage finden kann und unfähig ist, strukturelle Klarheit durch Reformen zu schaffen, führt das Land in den Abgrund.

 

Sie sehen die Chancen dafür eher pessimistisch?

Ich bin nicht so naiv, zu glauben, dass wir morgen oder in fünf Jahren eine Demokratie unter Beteiligung der Bevölkerung errichten können, die dann auch sinnvolle Ergebnisse zeitigt. Zuallererst brauchen wir daher ein Sicherheitskonzept für Syrien und eine bevollmächtigte Gerichtsbarkeit, die natürlich auf einer neuen Verfassung aufbauen muss. Was Wahlen angeht, würde ich nichts überstürzen, da ich nicht sicher bin, welche Ergebnisse Wahlen im derzeitigen Chaos bringen würden. Ich würde zuerst mit dem Wiederaufbau der Kernfunktionen des Staates beginnen: Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Gerichte als Gegenpol im Machtgefüge und Sicherheit für die Bevölkerung. Das ist meiner Meinung nach realistisch und wenn wir damit Erfolg haben sollten, könnten wir in fünf Jahren vielleicht mit der Organisation von Wahlen beginnen.


Bassma Kodmani ist Mitglied des Verfassungskomitees für Syrien in Genf und war bis 2019 Direktorin der »Arab Reform Initiative«. In den Jahren 2011 und 2012 war sie Sprecherin der Oppositionsorganisation »Syrischer Nationalrat«.

Von: 
Michael Nuding

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.