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General Khalifa Haftar und der Krieg in Libyen

Der sogenannte Khalifa-Staat

Kommentar
General Khalifa Haftar und der Krieg in Libyen
Die Vertreter der internationalen Gemeinschaft auf der Palermo-Konferenz für Libyen im November 2018 Russische Regierung

Khalifa Haftar bläst zum Sturm auf Tripolis. Wird der General Opfer der eigenen Hybris oder ordnet die Offensive die Karten neu, um die Spaltung in Libyen zu überwinden? Darüber ist man sich nicht mal innerhalb der EU einig.

Wer sich professionell mit der politischen Lage in Libyen beschäftigt, ist Nachrichten über militärische Auseinandersetzungen, martialische Rhetorik und die Verbreitung von Falschmeldungen gewohnt. Seit dem 4. April hat sich die Qualität aller drei der genannten Dimensionen allerdings nochmals deutlich verschärft. General Khalifa Haftar hat entschieden, seine sogenannte Libysche Nationalarmee (LNA) Richtung Tripolis in Bewegung zu setzen.

 

Diese Entwicklung überrascht leider wenig. Seit Monaten (teilweise schon seit Jahren, vor allem seit Beginn des libyschen Bürgerkriegs in 2014) weisen Journalisten, Analysten sowie allen voran viele Libyer berechtigte Zweifel, ob man den vermeintlich diplomatischen Bekundungen Haftars für eine friedliche, kompromissorientierte Lösung für das gespaltene Libyen Glauben schenken kann.
Ganz im Gegenteil, hatte Haftar wiederholt öffentlich klargemacht, was sein Ziel ist: Ein vereinigtes Libyen unter seiner politischen Führung, gestützt durch den Flickenteppich an Milizen unter dem Mantel der LNA.

 

Nur beim Blick auf den Zeitpunkt der Offensive muss man sich die Augen reiben. Den Sturm auf Tripolis ordnete Haftar am 4. April an, wenige Tage bevor die lang erwartete Libysche Nationalkonferenz in Ghadames vom 14. bis 16. April stattfinden sollte. Der UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Ghassan Salamé, hatte das Ziel ausgerufen, eine diverse und inklusive Bandbreite an libyschen Persönlichkeiten und Gruppen zusammenzubringen, um einen Dialogprozess zu starten, der direkt anschließend den Weg zu landesweiten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ebnen sollte.

 

Seit 2014 ist Haftar dabei, sich im Osten Libyens militärisch aufzustellen, seine LNA zwingt lokale Milizen in die Knie oder gliedert sie in die eigenen Verbände ein

 

Wer das politischen Versprechen zur freiwilligen Selbstverpflichtung schon mit Skepsis betrachtete, darf sich nach dem Alleingang des Generals bestätigt sehen. Mit dem Start einer bewaffneten Offensive Richtung Westlibyen hat Haftar deutlich gemacht, dass er seine Ambitionen über ganz Libyen zu herrschen, nicht (allein) von internationalen Konferenzen abhängig machen wird, sondern vielmehr politische Ambitionen gemäß der eigenen Agenda verfolgt. Allerdings hatte Haftar öffentlich und gegenüber westlichen Diplomaten stets erklärt, dass er die Hauptstadt in keinem Fall mit Gewalt einnehmen wolle – diese Fassade hat nun heftige Risse bekommen.

 

Der heute 75-jährige General war Teil der Gruppe, die Muammar Al-Gaddafi 1969 zur Macht verholfen hatte. Allerdings geriet er mit dem neuen Herrscher über die Jahre aneinander und fand Exil in den USA. An seine Rückkehr 2011, kurz vor Beginn der Nato-Intervention, hatte er Ambitionen geknüpft, nicht nur einer (von vielen) Milizenführern zu sein, sondern die Revolution anzuführen und nach Gaddafis Sturz dessen Platz einzunehmen.

 

Doch diese Gelegenheit verpuffte schnell und seine Milizen spielten zunächst keine wichtige Rolle im Post-Gaddafi-Libyen. Das änderte sich mit dem Aufflammen des libyschen Bürgerkriegs 2014, als Haftar sich und seine LNA als Kämpfer gegen islamistische Terroristen (zu dieser Gruppe zählten sehr bald alle, die sich in den Weg seiner LNA stellten) stilisierte und damit regional und auch teilweise international auf Gehör stieß.

 

Seit 2014 ist Haftar dabei, sich im Osten Libyens militärisch aufzustellen, seine LNA zwingt lokale Milizen in die Knie oder gliedert sie in die eigenen Verbände ein. Außerdem versucht der General, sein politisches Profil zu schärfen. Einfluss gewann er etwa durch die offizielle Anbindung seiner LNA an das Exil-Parlament von Tobruk. Haftar ist inzwischen auch auf diplomatischem Parkett präsent und führte sein politisches Gewicht zuletzt bei den internationalen Libyen-Konferenzen in Paris und Palermo aller Welt vor Augen.

 

Das Jahr 2019 bescherte Haftar in den vergangenen Wochen und Monaten nun einen weiteren militärischem Erfolg mit dem Vormarsch im Süden Libyens

 

Auf regionaler Ebene erfährt er vor allem von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten militärische Unterstützung, die ihm als Partner im Kampf gegen (den Muslimbrüdern nahe) Islamisten Vertrauen schenken und durch einen zuverlässigen Waffenzufluss sowie Einsätze der Luftwaffe direkt in den Machtkampf in Libyen eingreifen. Die UN hat diese Verstöße gegen das libysche Waffenembargo mehrfach offengelegt, Konsequenzen lassen bis heute auf sich warten.

 

Neben Ägypten und der VAE scheint Saudi-Arabien auf Haftar zu setzen – dafür spricht ein Treffen Haftars mit König Salman and Kronprinz Muhammad bin Salman (MBS) Ende März, sowie die Tatsache, dass Tweets, die sich auf Haftar beziehen und Unterstützung für die Offensive auf Tripolis ausdrücken, zu einem signifikanten Teil aus Saudi-Arabien kommen. International genießt Haftar inzwischen vor allem Unterstützung aus Russland. Dass aber etwa auch Frankreich auf Annäherung an den General setzt, ist Ausdruck einer Legitimität auf internationaler Ebene, die vor allem die Einladungen zu diplomatischen Vermittlungsrunden möglich machte – obwohl Haftar offiziell keine gewählte, öffentliche Rolle in Libyen für sich reklamieren kann.

 

Haftar mag den Vorstoß nach Tripolis nun gewagt haben, weil er vor Beginn der Nationalkonferenz Mitte April Fakten schaffen wollte. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass er seine eigenen Kräfte sowie die regionale und internationale Unterstützung überschätzt. Andererseits ist es möglich, dass Haftar sich all dieser Schwächen und Schwierigkeiten bewusst war, aber trotzdem entschied, dass es nun Zeit für einen Vorstoß auf Libyens Haupstadt sei.

 

2018 hatte der General, aus seiner Sicht erfolgreich, die Städte Derna und Benghazi im Osten Libyens unter die Kontrolle seiner LNA gebracht. Das Jahr 2019 bescherte Haftar in den vergangenen Wochen und Monaten nun einen weiteren militärischem Erfolg mit dem Vormarsch im Süden Libyens. Der westliche Teil Libyens mit ökonomischen Schwergewichten wie Misrata und der Hauptstadt Tripolis das letzte Puzzlestück, das Haftar braucht, um sich als Führer von ganz Libyen zu etablieren. Allerdings, und hier liegt die Krux, der westliche Teil Libyens unterscheidet sich deutlich vom östlichen und südlichen Teil, und die Militäroffensive im Süden des Landes ist qualitativ Lichtjahre entfernt, von dem, was Haftar in Tripolis erwartet. Bereits jetzt lässt sich bilanzieren, dass Haftar die schnelle Mobilisierung und teilweise Fraternisierung zwischen Milizen aus Tripolis und Misrata zu einer Gegenoffensive unterschätzt hatte.

 

Auch im höchsten UN-Gremium tritt das Ausmaß an Rückendeckung zutage, das Haftar inzwischen in Moskau und Paris genießt

 

Kurz und bündig lassen sich die internationalen Reaktionen auf die Tripolis-Offensive zusammenfassen: verbale Verurteilung, allerdings oft, ohne Haftar als Aggressoren beim Namen zu nennen. Konsequenzen bleiben aus, stattdessen hat etwa das Afrikakommando der US-Streitkräfte einen operativen Rückzug aus Libyen angekündigt. Unternehmen beginnen, ihre Mitarbeiter zu evakuieren, darunter der italienische Energiekonzern ENI.

 

Und selbst António Guterres musste nach einem Treffen mit Haftar am 5. April unverrichteter Dinge abreisen, nachdem der General sich nicht dazu zu verpflichten wollte, eine weitere Eskalation zu vermeiden. »Ich verlasse Libyen schweren Herzens und sehr betroffen. Ich hoffe immer noch, dass eine weitere blutige Eskalation in und um Tripolis vermeidbar ist. Die UN ist bereit, eine politische Lösung voranzutreiben, unabhängig von anderen Entwicklungen, die UN fühlt sich verpflichtet, das libysche Volk zu unterstützen.« Der Tweet, den Guterres auf seinem Rückweg aus Libyen formulierte, hat inzwischen unrühmliche Bekanntheit erlangt und wird von vielen Libyern als Kapitulation der Vereinten Nationen interpretiert.

 

Der UN-Sicherheitsrat hat unter Vorsitz von Deutschland die Krise in Libyen am 5. April auf die Agenda gebracht, allerdings findet auch dieses Statement keine klaren Worte und kann sich nicht zu einer expliziten Verurteilung von General Haftar durchringen – auch im höchsten UN-Gremium tritt das Ausmaß an Rückendeckung zutage, das Haftar inzwischen in Moskau und Paris genießt. Die gleiche Linie zieht sich durch das Statement der G7-Staaten zu Libyen. Am 7. April verschärfte zwar die US-Administration den Ton in Bezug auf Haftars Offensive, allerdings ist diese Rhetorik nicht an eigentlichen Einfluss auf die Dynamiken vor Ort geknüpft. Gleichzeitig wird vor allem Salamé nicht müde zu betonen, dass die geplante Nationalkonferenz weiterhin stattfinden soll.

 

In Libyen selbst sind die Reaktionen auf Haftar’s Offensive vor allem militärischer Natur. Zurzeit sieht es nicht so aus, dass die Blitzoffensive von Erfolg gekrönt sein wird. Mächtige Milizen in Tripolis haben eine Gegenoffensive angekündigt und in Teilen Westlibyens, unter anderem in Misrata, wurden Reservekämpfer mobilisiert, die der LNA die Stirn bieten sollen. Auf der einen Seite ist damit eine Verteidigung der errungenen Einflusssphären verknüpft, zugleich sind viele Libyer trotz der Unruhen der vergangenen Jahre seit dem Sturz Gaddafis unter keinen Umständen bereit, wieder unter einem autokratischen Herrscher zu leben – und bereit, alles dafür in die Waagschale zu werfen.

 

Haftar hat seine Offensive »Lawine der Würde« getauft. Der Armeesprecher der Gegenseite nannte die eigene Operation »Vulkan der Verärgerung«

 

In den sozialen Medien ist ein heftiges Ringen um die Meinungshoheit in Gange, begleitet von Denunziationen – leider hilft die offizielle Rhetorik der beteiligten Gruppen nur, diesen Kreislauf anzuheizen. So hat beispielsweise Haftar seine Offensive »Lawine der Würde« getauft. Der Armeesprecher der Truppen, die mit der Einheitsregierung in Tripolis verbunden sind, nannte die Gegenoffensive wiederum »Vulkan der Verärgerung«, die alle libyschen Städte von Haftars Truppen »reinigen« solle.

 

Gleichzeitig geht das Leben in Tripolis weiter und viele Einwohner geben die Hoffnung nicht auf, dass eine weitere Eskalation vermieden werden kann. Am 7. April fand in Tripolis zum Beispiel ein »Internationales Volksfest« statt – am gleichen Tag, an dem die LNA anfing, Luftangriffe auf Viertel südlich der Hauptstadt zu fliegen.

 

Auf der einen Seite mussten viele Libyer die Brutalität der Truppen Haftars entweder am eigenen Leib erfahren, oder haben zumindest genug glaubhafte Berichte darüber gehört, um mit Furcht auf eine mögliche Zukunft in Libyen unter Haftars Herrschaft zu blicken. Auf der anderen Seite äußern gerade auch in Tripolis einige Libyer, die während der vergangenen Jahre von Milizen regiert wurden, die Hoffnung, dass Haftar die einzige Person sein könnte, die zumindest das Potenzial besitzt, das Land zu vereinen und der Milizenherrschaft ein Ende zu setzen.

 

Natürlich sind alle diese Meldungen mit Vorsicht zu genießen und die Reaktionen hängen stark vom lokalem Hintergrund der Personen und den Ambitionen lokaler Akteure ab. Trotzdem muss die internationale Gemeinschaft auch akzeptieren, dass die Zeit nach den letzten großen Friedensverhandlungen mit dem resultierenden Skhirat-Abkommen 2015 für viele Libyer nicht mit Verbesserungen einherging und manche somit für fast alle Optionen offen scheinen.

 

Es ist immer noch möglich, dass Haftar das Scheitern seiner Blitzoffensive eingesteht

 

In der aktuellen Lage scheint das Szenario eines langen, blutigen Konfliktes im Süden von Tripolis nicht unwahrscheinlich. Diese Analyse ist vor allem darauf gestützt, dass Haftar dieses Risiko eines dritten Bürgerkrieges eingeht – die LNA ist letztlich nicht die starke Armee, die Haftar gerne porträtiert, sondern vielmehr ein Flickenteppich an Milizen, die unter dem Namen der LNA kämpfen – allerdings braucht diese Loyalität einen regelmäßigen Zufluss an Ressourcen. Es ist unklar, inwiefern Haftar diese Versorgung aufrechterhalten kann, insbesondere angesichts des starken militärischen Gegengewichts im Westen Libyens.

 

Es ist immer noch möglich, dass Haftar das Scheitern seiner Blitzoffensive eingesteht – ein überlegtes, strategisches, gemeinsames Handeln der internationalen Gemeinschaft kann dieses Ergebnis möglicherweise vorantreiben. Gemeinsamer Druck von Washington und Brüssel etwa hat in der Vergangenheit dem General seine Grenzen aufgezeigt. So konnte Haftar sowohl 2014 als auch 2018 daran gehindert werden, Öl abseits der offiziell zugelassenen Handelswege zu exportieren.

 

Nun ist es an der Zeit, dass alle beteiligten Seiten zusammen daran arbeiten, Haftar einen Waffenstillstand abzuringen sowie die geplante libysche Nationalkonferenz von militärisch geschaffenen Tatsachen zu befreien und somit wieder Legitimität zu zusprechen. Das scheint zurzeit die einzige Möglichkeit, der Gewalt im Land Einhalt zu gebieten sowie die politischen und diplomatischen Bemühungen am Leben zu erhalten. Eine Militärherrschaft unter Haftar wäre ein Rückfall in alte Muster bedeuten, der weder für das Land selbst, noch für die Nachbarschaft Libyens – in Nordafrika, dem subsaharischen Afrika und Europa – von Vorteil wäre.


Inga Kristina Trauthig promoviert am Londoner King’s College über die Wege politischer Einflussnahme im Post-Gaddafi-Libyen.

Von: 
Inga Kristina Trauthig

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