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Europa und die IS-Rückkehrer

Macht den Dschihadisten in Europa den Prozess

Kommentar
Versuchslabor zur Aufstandsbekämpfung
Die irakische Hauptstadt Bagdad Foto: Daniel Gerlach

Europa muss seiner Verpflichtung nachkommen und darf Dschihadistenprozesse nicht auslagern. Das Strafrecht eines EU-Mitglieds könnte einen Präzedenzfall schaffen.

Nach eigenen Angaben hält die Türkei 2.280 Mitglieder des Islamischen Staates aus 30 Ländern gefangen, darunter auch etliche europäische Staatsbürger. Über 1.100 Europäer sind im Norden Syriens in Internierungslagern untergebracht. Geht es nach dem Willen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, sollen alle in türkischem Gewahrsam befindlichen IS-Anhänger bis Ende des Jahres in ihre Heimatländer rückgeführt werden. Diese Ankündigung konfrontiert Europa mit einer unangenehmen Wahrheit, vor der bis jetzt nicht bloß Entscheidungsträger, sondern auch wir als europäische Gesellschaft die Augen verschlossen hatten. Es ist Zeit, sich den eigenen Dschihadexporten, speziell aber seinen Ursachen zu stellen.

 

Die Meldungen über die ersten Jugendlichen aus Europa, die nach Syrien und in den Irak aufbrachen, um sich dschihadistischen Netzwerken anzuschließen, durchzog unsere Gesellschaft wie eine Welle des Entsetzens. Warum Europa eintauschen gegen ein Kriegsgebiet, warum eine liberale Gesellschaft gegen eine fundamentalistische?

 

Die Antworten auf diese Fragen kreisen sich meist um soziale Ausgrenzung, ökonomische Unsicherheit und persönliche Krisen, wie Radikalisierungsexperten immer wieder betonen. Die Transformation hin zu einem Extremisten ist also ein sozialer Prozess und die europäischen Dschihadexporte somit Produkte unserer Gesellschaft.

 

Eine europäische Strategie im Umgang mit den Dschihadexporten gibt es nicht. Die Abneigung, Dschihadisten vor europäische Gerichte zu stellen, ist jedoch der kleinste gemeinsame Nenner. Einige Optionen liegen auf dem Tisch, sie laufen aber alle darauf hinaus, dass sich Drittstaaten um die Abwicklung der Verfahren und schließlich den Vollzug kümmern sollen. Dies entspringt dem gleichen Geist wie die europäische Externalisierungsstrategie im Bereich des Grenzschutzes und des Migrationsmanagements.

 

Eine Option wäre die Schaffung außerordentlicher Gerichte innerhalb der irakischen Justiz, die die Todesstrafe ausklammern – aber das wird teuer

 

Großbritannien beispielsweise hat in der Vergangenheit immer wieder den sogenannten Foreign Fighters die britische Staatsbürgerschaft entzogen, so auch Österreich, wie erst kürzlich bekanntgeworden ist. In jenen Fällen, in denen die Dschihadisten keine Doppelstaatsbürgerschaft besaßen oder nicht das Anrecht auf eine zweite hatten, hinterließ dieses Vorgehen staatenlose Menschen und verstößt somit gegen das Völkerrecht.

 

Andere Staaten, wie etwa Frankreich, signalisieren ihre Zustimmung, die gefangenen IS-Unterstützer vor irakische Gerichte zu stellen. Die Gefahr schneller und unfairer Prozesse sowie die Androhung der Todesstrafe bedeuten jedoch einen Bruch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Denn die untersagt es den EU-Mitgliedern, ihre Staatsbürger an Gerichtsbarkeiten zu überstellen, die die Todesstrafe verhängen. Die Schaffung außerordentlicher Gerichte innerhalb der irakischen Justiz, die die Todesstrafe ausklammern, würde zwar eine irakische Verfassungsänderung voraussetzen, wäre jedoch mit europäischem Recht vereinbar. Die Zahlungen für Verfahren und Verwahrung haben irakische Offizielle auf jährlich 2 Milliarden US-Dollar berechnet – auf Grundlage der Verwahrungskosten für Dschihadisten in Guantanamo.

 

Der Internationale Strafgerichtshof, jenes Organ, das sich mit Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit befasst, wird in dieser Debatte auch immer wieder als mögliche rechtliche Instanz zur Aburteilung von Dschihadisten ins Spiel gebracht. Doch das Gremium ist nur zuständig, wenn ein Staat nicht fähig oder willens ist, sich ein Verfahren anzustrengen. Zudem ist der Internationale Strafgerichtshof darauf ausgelegt, Führungspersonen anzuklagen und nicht hunderte Fußsoldaten und Unterstützer. Er wäre für eine solch enorme Verfahrensabwicklung somit ungeeignet.

 

Die irakische Justiz, aber auch oppositionelle syrische Kräfte sind mit der Handhabung von IS-Prozessen schlicht überfordert

 

Externalisierungsstrategien, also das Auslagern des Schutzes der staatlichen und supranationalen Hoheit an private Akteure oder Drittstaaten, sind grundsätzlich problematisch, da somit ein Teil des (supra-)staatlichen Gewaltmonopols abgegeben wird. Es kommt einem Eingeständnis gleich, sich nicht mehr um eigene hoheitlichen Aufgaben kümmern zu können.

 

Damit gehen auch einige (sicherheitspolitische) Probleme einher. So sind etwa die irakische Justiz, aber auch oppositionelle syrische Kräfte, insbesondere die kurdisch dominierten SDF, die einen großen Teil der gefangenen IS-Unterstützer verwahren, schlicht mit der Handhabung überfordert. Das Ergebnis sind schnelle und unfaire Verfahren, die mit Todesurteilen für Europäer enden, wie wir es bereits aus dem Irak kennen. Zudem besteht das Risiko, dass Gefangene befreit werden oder fliehen können, wie in den letzten Wochen im Nordosten Syriens geschehen.

 

Im ersten Fall würde Europa fundamentale Rechtsbrüche begehen müssen und seine Glaubwürdigkeit in Sachen Menschenrechte verspielen – und damit einhergehend seine Rolle als glaubhafter globaler Akteur. Im zweiten Fall könnten ehemalige IS-Unterstützer entweder die Region weiter destabilisieren oder unerkannt wieder nach Europa gelangen.

 

Die eigenen Aufgaben auszulagern, macht Europa verwundbar und erpressbar – etwa gegenüber der Türkei

 

Die eigenen Aufgaben auf andere zu übertragen, macht verwundbar, aber auch erpressbar. Vor diesem Hintergrund steht vermutlich auch das türkische Ansinnen, die europäischen IS-Unterstützer bis Jahresende wieder nach Europa zurückzuführen und kann als Druckmittel gewertet werden – etwa in Reaktion auf EU-Sanktionen wegen türkischer Gasbohrungen nahe der zypriotischen Küste.

 

Bleibt also noch die Rückführung als mögliche geeignete Option. Sie entlastet europäische Partner und Staaten in einer ohnehin fragilen Region und bietet den geeigneten Rahmen für strafrechtliche Verfolgung und Resozialisierung, aber auch für Überwachung, falls nötig. Im Vergleich zu anderen europäischen Gesetzgebungen bietet der § 278g des österreichischen Strafgesetzbuches, der bereits die Reise in ein anderes Land mit dem Ziel, sich einer terroristischen Vereinigung anzuschließen, unter Strafe stellt, den geeigneten Rahmen, um IS-Unterstützer zur Rechenschaft zu ziehen.

 

Darüber hinaus können solche Verfahren wichtige nachrichtendienstliche Informationen liefern, die für eine zukünftige Strategie zur Terrorismusbekämpfung sich als wertvoll erweisen könnten. Die Rückführung der Foreign Fighters zwingt jedoch nicht bloß heimische Gerichte, sondern auch europäische Gesellschaften, sich mit den Biografien und den hinter den Radikalisierungsprozessen liegenden gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen. Es ist ein unbequemer und schmerzhafter Prozess, denn der zumeist nach außen gerichtete Blick muss sich nun nach innen wenden. Dennoch ist es ein notwendiger Schritt für die eigene Extremismusprävention.


Constantin Lager ist Politologe und arbeitet beim Thinktank Shabka. Er ist Projektkoordinator des Syrian Futures Projektes.

Von: 
Constantin Lager

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