Lesezeit: 20 Minuten
Atomdeal und Regionalpolitik

Welche Ziele verfolgt Iran im Nahen Osten?

Analyse
Hassan Rouhani
Foto: Büro des iranischen Präsidenten

Das Atomabkommen ist mit Irans Rolle in der Region verknüpft. Von einer Konfrontation mit den USA, Europa und den Golfstaaten profitieren Hardliner im Inneren. Muss der Westen Ruhani deshalb unterstützen?

Schon seit Jahren sorgt Irans Engagement in Syrien für Ärger. Im Zentrum der Kritik, in der sich der Westen, viele arabische Staaten und Israel weitgehend einig sind, stehen schiitische Milizen unter Teherans Kontrolle. Diese Milizen kämpfen an der Seite der Truppen des syrischen Regimes. Problematisch sei nicht bloß die iranische Einmischung in Syrien und anderen Konfliktfeldern, sondern vor allem, so der Vorwurf, die Tatsache, dass Teheran den machtpolitischen Führungsanspruch mit der Entwicklung und Stationierung ballistischer Raketensysteme untermauert. Aus diesem Grund gefährde Iran die Stabilität der Region. Dies ist wohl das Hauptargument, welches Befürworter einer Neuverhandlung des Atomdeals mit Teheran ins Feld führen.

 

Zwar treten deutliche Differenzen in der Beurteilung des Abkommens zutage: Auf der einen Seite die EU und der Großteil ihrer Mitgliedsstaaten, auf der anderen Seite die USA, Washingtons arabische Verbündete sowie Israel. Einig sind sich die Kritiker nur über die grundlegend negativen Auswirkungen, die Irans Ausgreifen in den vergangenen Jahren gezeitigt hat.

 

Teheran wiederum drückt sich darum, die Präsenz der eigenen Hilfstruppen und Verbündeten in der Region überhaupt zu kommentieren. Sie kommen meist nur dann zur Sprache, wenn die Särge der Freiwilligen in ihre Heimatländer – darunter auch Iran – zurückgeflogen werden und man ihrer als »Märtyrer« öffentlich gedenkt. Zugleich ruft Irans Regierung immer wieder in Erinnerung, dass man die Vorgaben und Verpflichtungen des Atomabkommens einhalte, während etwa die USA die grundsätzliche Gültigkeit des völkerrechtlich verpflichtenden Dokuments in Frage stellen. Allen Beteiligten ist jedoch bewusst, dass ein Zusammenhang zwischen Atomabkommen und Regionalpolitik besteht. Die Frage ist nur, wie beide Felder zusammenwirken und welche Schlüsse man daraus ziehen kann.

 

Noch heute sehen die Saudis die Islamische Republik in der Tradition der imperialen Hegemonialpolitik des Schahs.

 

Um es klar zu sagen: ja, die Islamische Republik folgt einer strategischen Vision für den Nahen Osten – und die unterscheidet sich kaum von der des Vorgängerregimes. Integraler Bestandteil dieser Vision ist die Zurückdrängung auswärtiger – in diesem Fall westlicher –Einflüsse in der Region, eine dominante Stellung am Persischen Golf, einen Fuß in der Tür zum östlichen Mittelmeerraum und in erster Linie: der Wettstreit mit Saudi-Arabien.

 

Natürlich haben sich die ideologischen Koordinaten verschoben: Der Schah hat sich in der Golf-Politik nie mit den USA angelegt und auch im Ringen um Einfluss im Libanon suchte das Schah-Regime keinen Konflikt mit Israel. Das Kräftemessen mit dem Nachbarn auf der anderen Seite des Golfs hingegen setzt sich fast ungebrochen fort. Noch heute sehen nicht wenige saudische Entscheidungsträger die Islamische Republik als Nachfolgerin des Kaiserreichs, die in der Tradition des Schahs Hegemonialpolitik betreibt.

 

Teheran sieht seine Rolle in der Region als Schlüsselmacht, deren Politik sich weder am Segen noch den Sorgen des Westens orientieren muss. Als revolutionäres Regime folgt die Islamische Republik zudem dem Prinzip des historischen Determinismus. Konkret bedeutet das: Teheran glaubt, dass alle prowestlichen Regime in der Region unausweichlich zum Scheitern verurteilt sind und früher oder später durch islamistische, islamische oder zumindest pro-islamische Systeme ersetzt werden. Diesem Weltbild zufolge ist der politische Islam in seinen verschiedenen Ausprägungen nun einmal die stärkste ideologische Kraft in der Region.

 

Daraus folgt eine vergleichsweise simple Logik: Iran muss im Prinzip nur standhaft bleiben und sein antiwestliches Narrativ kultivieren. Anti-israelische und pro-palästinensische Positionen würden dann sowohl bei aufstrebenden Führungspersönlichkeiten, als auch bei der Bevölkerung in der Region einen Nerv treffen. Allmählich würden die bilateralen Beziehungen zu allen Staaten in der Region soweit reifen, dass diese die Islamische Republik als primus inter pares anerkennen.

 

Die Hizbullah ist, trotz der aggressiven Rhetorik, darauf bedacht, sich nicht in einen Zweifrontenkrieg verwickeln zu lassen.

 

Um in der Region Saudi-Arabien die Stirn zu bieten und zu übertrumpfen, würde also folgende Kombination ausreichen: eine offen anti-israelische Allianz (»Widerstandsachse«), bestehend aus einer Handvoll Verbündeter wie Hizbullah, dem syrischen Regime, einiger palästinensischer Gruppen wie dem »Islamischen Dschihad« sowie – ab und an – der Hamas. Das Nuklearprogramm, ein Arsenal an ballistischen Raketen für Mittel- und Langstrecke sowie eine geschickte Diplomatie würden dann dieses Allianzgeflecht flankieren und unterfüttern.

 

Soweit die Theorie. Natürlich stoßen derlei strategische Planspiele an Grenzen, die von den wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten vorgegeben sind. Ebenso kollidieren geopolitische Visionen oft genug mit den jeweiligen Ambitionen und Gefahrenanalysen der eigenen Nachbarn oder konkurrierender Mächte. Bestes Beispiel: Teherans Raketenprogramm, das sich eher als Bürde, denn als Stütze erweist. Denn letztlich ist immer danach zu fragen, wem Schutz oder Abschreckung überhaupt gelten.

 

Während des Ersten Golfkriegs richtete sich das Arsenal gegen einen unmittelbaren Gegner: den Irak unter Saddam Hussein. Heute steht die Islamische Republik einer Vielzahl von Widersachern gegenüber, die im Falle eines iranischen Angriffs zudem auf US-amerikanische Waffenhilfe bauen können. Teherans wichtigstes Abschreckungspotenzial besteht aus drei Komponenten: die Bewaffnung der Hizbullah, das Arsenal an konventionellen Raketen am Persischen Golf, deren Zielradius bereits die arabischen Metropolen der Golfregion umfasst, sowie die russischen Luftabwehrsysteme.

 

Die Hizbullah ist, trotz ihrer aggressiven Rhetorik, darauf bedacht, sich nicht in einen Zweifrontenkrieg verwickeln zu lassen. Der Einsatz der Raketen am Golf ist gemäß der iranischen Doktrin nur als ultima ratio für den Verteidigungsfall vorgesehen. Und die Luftabwehrsysteme operieren mit einem Mischmasch aus russischer und amerikanischer Hardware und müssen zudem ein immens großes Territorium abdecken.

 

Der verlustreiche Erste Golfkrieg hatte bereits einem gewissen Pragmatismus den Weg geebnet: Denn alle Ressourcen und politischen Handlungsmöglichkeiten dem ideologischen Eifer zu opfern, hatte sich als kontraproduktiv erwiesen.

 

Ein weiterer Nachteil: Irans Luftwaffe, in großen Teilen noch immer mit Fliegern aus US-amerikanischer Produktion aus der Schah-Zeit vor 1979 bestückt, kann es numerisch nicht einmal mit den Flugstaffeln der kleineren Golfstaaten aufnehmen, etwa der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Irans Nachbarn investieren überhaupt sehr viel umfangreicher in militärische Ausrüstung. Mit anderen Worten: Iran kann seinem Machtanspruch mit konventionellen militärischen Mitteln nur sehr begrenzt Nachdruck verleihen.

 

Irans Entscheidungsträger sind sich dieser Einschränkungen bewusst. Der verlustreiche Erste Golfkrieg hatte bereits einem gewissen Pragmatismus den Weg geebnet: Alle Ressourcen und politischen Handlungsmöglichkeiten dem ideologischen Eifer zu opfern, erwies sich damals als kontraproduktiv.

 

»Zweckdienliche Interessen« bestimmten schließlich das Handeln der Islamischen Republik. Dazu gehört, das Überleben des Regimes zu sichern und eine Intervention zu verhindern, wie sie den Nachbarn Irak und Afghanistan widerfahren war. Was folgte, war eine Politik der »freiwilligen Zurückhaltung« – oder der kalkulierten Provokation. Die Beurteilung hängt hier ganz wesentlich vom Standpunkt ab. Iran begann, seine Interessen energisch voranzutreiben, ohne aber eine Eskalation auszulösen, aus der man nicht siegreich hervorgehen können würde. Dazu zählt etwa eine direkte militärische Konfrontation mit den USA.

 

Das Atomabkommen muss genau in diesem Kontext betrachtet werden: Teheran verhandelte hartnäckig, stimmte letztlich aber einem Kompromiss zu, der Irans zweckdienliche Interessen ebenso berücksichtigte wie die Bedenken der internationalen Gemeinschaft hinsichtlich der möglichen militärischen Nutzung des iranischen Nuklearprogramms.

 

Dass die Hizbullah nun eigene Truppen dafür aufwenden musste, um den Kollaps des syrischen Regimes zu verhindern, hat weitreichende Konsequenzen. Die werden etwa im Jemen sichtbar.

 

Auch Teherans Regionalpolitik folgt den Beschränkungen dieser Rahmenbedingungen. Nach außen hin strotzt die Rhetorik der »Achse des Widerstands« vor Machtbewusstsein. Die politischen Realitäten hingegen lassen Teheran kaum eine andere Option, als zum Beispiel Baschar Al-Assad zu unterstützen. Das syrische Regime hätte sich ohne iranische Hilfe kaum mehr aus der Defensive befreien können, ist zugleich aber selbst für die in jeder Hinsicht katastrophale Situation im eigenen Land mitverantwortlich.

 

Doch die »Achse« ist zwingend auf den Konsens eines stabilen Syriens angewiesen, um der Hizbullah strategische Tiefe als Sachwalterin iranischer Interessen zu verleihen. Dass die Hizbullah nun eigene Truppen dafür aufwenden musste, um den Kollaps des syrischen Regimes zu verhindern, hat weitreichende Konsequenzen: Die Hizbullah operiert mittlerweile sehr viel unabhängiger, nicht nur im Libanon, sondern in der gesamten Region. Mit Ausnahme vom Irak – und selbst dort hat die Hizbullah an Einfluss gewonnen – fällt der libanesischen Miliz immer häufiger eine Rolle als Schutzmacht der arabischen Schiiten zu.

 

Am deutlichsten zeigt sich dieser Wandel im Jemen. Wichtiger als die Unterstützung auf dem Schlachtfeld erwies sich die Schützenhilfe der Hizbullah für die Propaganda der Huthi-Bewegung. Iran und die Huthis verhehlten ihre Kontakte nicht, wenngleich die zaiditische Miliz bei weitem nicht die Bedeutung für Teheran hat wie die Hizbullah. Welch wichtige strategische Bedeutung der Jemen für Saudi-Arabien hat, unterschätzt Iran jedoch: Zwar griffen saudische, nicht iranische Truppen, 2015 zuerst in den Bürgerkrieg ein. Dennoch sollte man sich vor Augen führen, dass auch Teheran die Intervention einer Regionalmacht (im Gegensatz zu einer kaum zu verhindernden Intervention einer Weltmacht, wie jener der USA 2003 im Irak) im eigenen Hinterhof nicht akzeptiert hätte.

 

Deswegen musste selbst minimale, indirekte Unterstützung eine heftige Reaktion des Rivalen Saudi-Arabien auslösen – schon allein, um das Gesicht zu wahren. Denn Riad wollte auch auf internationaler Ebene um jeden Preis vermeiden, dass der eigene Führungsanspruch im Jemen kompromittiert wird. Saudi-Arabien wird nicht müde, die vermeintliche Aushebung des »schiitischen Halbmonds« unter iranischer Flagge zu geißeln. Den Vorwurf trägt Riad derart lautstark vor, dass er übertrieben erscheint. Aus Perspektive der Saudis ist er hingegen nur folgerichtig angesichts der allgegenwärtigen Präsenz der Iraner im Irak und in Syrien.

 

Irans Beziehungsstatus mit dem Klerus der Schiiten ist, gelinde gesagt, kompliziert. Und nicht alle Gruppen, die mit Teheran kooperieren, sind iranische Vasallen.

 

Sympathisanten und Gegner der Islamischen Republik argumentieren gleichermaßen, dass Irans wirkliche Macht in der Fähigkeit liegt, Schiiten weltweit zu mobilisieren und als fünfte Kolonne einzusetzen. Immerhin unterhalten Schiiten aus allen Teilen der Welt Beziehungen zum mächtigsten Land unter schiitischer Führung. Doch das ist zu einfach gedacht.

 

Irans Beziehungsstatus mit dem schiitischen Klerus ist, gelinde gesagt, kompliziert. Besonders das Nachbarland Irak beheimatet ein breites Spektrum des politischen Schiismus. Und nicht alle Gruppen, die mit Teheran kooperieren, lassen sich als iranische Vasallen klassifizieren.

 

Zu Teherans engsten Verbündeten im Nachbarland zählen der »Oberste Islamische Rat im Irak« (ISCI) und die Badr-Organisation – beides Gruppen, die unter der US-Besatzung eng mit den Amerikanern kooperiert hatten. Ironie der Geschichte: Die Badr-Organisation war einst als formeller Teil der iranischen Revolutionsgarden gegründet worden, während der ISCI aus dem Pro-Khomeini-Flügel der Da’wa-Partei hervorging, bevor sich der Kleriker-Clan der Al-Hakim – enge Vertraute von Revolutionsführer Ali Khamenei – den Dachverband als familieneigenen politischen Arm untertan machte. (Inzwischen hat der Politiker Ammar Al-Hakim die Partei des ISCI verlassen und eine eigene Partei mit dem Namen Hikma gegründet).

 

Für viele dieser Gruppen, darunter auch die Bewegung des bei den Wahlen siegreichen Muqtada Sadr, spielt der iranische Anspruch auf ideologische Führung keine vergleichbar große Rolle. Selbst Verbindungsoffiziere mit engen Beziehungen zum iranischen Sicherheitsapparat beanspruchen einen eigenen Handlungsspielraum und beurteilen das Bündnis mit Iran aus irakisch-schiitischer Perspektive. Angesichts des politischen Klimas im Irak, das von Konkurrenz und Grabenkämpfen zwischen den verschiedenen schiitischen Gruppen geprägt ist, waren die Voraussetzungen für Teherans Machtkalkül im Irak denkbar schlecht. Der Aufstieg des »Islamischen Staats« (IS) veränderte dann alles.

 

Irans Truppenbewegungen in Syrien waren zu gering, um das Kriegsgeschehen entscheidend zu beeinflussen, aber zu auffällig, um sie abzustreiten.

 

Schon ab 2011 strömte eine stetig wachsende Zahl Freiwilliger verschiedener Konfessionen Richtung Syrien, um sich dort Milizen anzuschließen. Fortan waren die Bürgerkriege in beiden Ländern miteinander verschränkt. Das Gros der Schiiten zog es zum Komplex des Zainab-Schreins im Süden von Damaskus. Das wichtigste schiitische Heiligtum auf syrischem Boden hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als Sammelpunkt für verschiedene arabisch-schiitische Gruppen entwickelt – unter strikter Aufsicht durch das syrische Regime.

 

Als dann Kämpfe rund um die Hauptstadt ausbrachen, erwies sich die strategische Lage des Schreingeländes als Schlüsselfaktor: Gleich zu Beginn schlossen sich die Hizbullah und eine Handvoll irakischer Gruppen zur Abul-Fadhl-Abbas-Brigade zusammen, die umgehend die Nachbarschaft um das Heiligtum sicherte. Die Iraner sahen die Entwicklung mit Wohlwollen. Zuvor hatten sie gerade einmal fünf hochrangige Militär- und Geheimdienstberater sowie die Qods-Einheit für Ausbildungs- und Aufklärungszwecke in Syrien stationiert. Je mehr die Kämpfe an Fahrt aufnahmen, desto mehr Freiwillige zog es auch aus Iran Richtung Syrien – darunter ehemalige Offiziere der Revolutionsgarden. Die Truppenbewegungen waren zu gering, um das Kriegsgeschehen entscheidend zu beeinflussen, aber zu auffällig, um sie abzustreiten.

 

Aus diesem Grund entschieden sich die Führung in Teheran und das syrische Regime, die iranische Militärpräsenz im Land neu zu ordnen. Fortan würde ein Luftwaffenregiment der regulären Streitkräfte in Syrien stationiert werden. Zugleich würden iranische Freiwillige in den »Fatehin«- und »Saberin«-Brigaden gruppiert und in die Struktur von Revolutionsgarden und Bassidsch eingegliedert. Die Qods-Einheit übernahm die Koordinierung mit dem syrischen Regime. Außerdem sammelte Teheran afghanische Kämpfer, viele davon Flüchtlinge in Iran, in der »Fatemiyun«-Brigade sowie Freiwillige aus Südasien im »Zainabiyun«-Bataillon.

 

Doch die meisten Kämpfer kamen aus dem Irak – kein Wunder, schließlich ist die Verehrung für die Schwester von Imam Hussein, der auf dem Schlachtfeld vom Kerbela ums Leben kam, dort besonders ausgeprägt. Zudem hatte die konfessionelle Gewalt im Irak im Jahrzehnt zuvor auch schiitische Moscheen und Schreine getroffen – und Gruppen wie der IS machten auch in Syrien keinen Hehl aus ihrer explizit anti-schiitischen Agenda.

 

Die zahlreichen Abkommen und Konzessionen, die Teheran mit dem Assad-Regime abgeschlossen hat, könnten sich als schlechter Deal erweisen. Für die iranische Wirtschaft sind sie mit Sicherheit kein Heilsbringer.

 

Drei Milizen mobilisierten besonders erfolgreich für den Einsatz in Syrien: Kata’ib Hizbullah, Harakat Hizbullah Al-Nujaba und Asa’ib Ahl Al-Haqq. Die beiden letzteren waren Abspaltungen von Muqtada Sadrs aufgelöster Mahdi-Armee. Die drei Gruppen sowie die Badr-Organisation bildeten schließlich die Keimzelle für die »Volksmobilisierungseinheiten« (»Al-Haschd Al-Scha’bi«), die nach der IS-Offensive 2014 ins Leben gerufen wurden. Die Aktivitäten all dieser Milizen werden über die Abul-Fadhl-Abbas-Brigade koordiniert.

 

Die Präsenz der irakischen Milizen brachte Iran drei Vorteile: Erstens, war es der einzige Ausweg, um die dramatischen Lücken in Reihen der syrischen Armee aufzufüllen – und das Assad-Regime so noch enger zu binden. Zweitens, behauptete Teheran nicht nur seine Position gegenüber Damaskus, sondern unterstrich auch die eigene Bedeutung für Moskau. Drittens, war schon sehr früh klar, dass der Kampf gegen den IS im Irak und in Syrien gleichermaßen geführt werden müsse. Die Ausweitung der Front bedeutete also, dass Iran in der Lage war, den IS soweit wie möglich von den eigenen Grenzen fernzuhalten.

 

Diese Feldvorteile erscheinen auf den ersten Blick einleuchtend. Dennoch sorgten sie dafür, dass Iran das eigene Schicksal mit dem Ausgang des Syrien-Konflikts verknüpfte. Selbst ein Sieg Assads könnte Teheran teuer zu stehen kommen: Denn entweder würde sein Regime über Jahre auf politische, militärische und wirtschaftliche Unterstützung aus Iran angewiesen sein, oder er würde einen Weg zum Ausgleich mit früheren Kontrahenten finden, etwa Saudi-Arabien oder der EU – und zu Lasten Irans. Welches Szenario auch eintritt, Syrien wird nach dem Krieg ein sehr armes Land sein. Die zahlreichen Abkommen und Konzessionen, die Teheran mit dem Assad-Regime abgeschlossen hat, könnten sich als schlechter Deal erweisen. Für die iranische Wirtschaft sind sie mit Sicherheit kein Heilsbringer.

 

Irans regionale Verstrickungen sind in der Heimat hoch umstritten – nur aus dem islamistischen Milieu erfährt der außenpolitische Kurs vergleichsweise große Unterstützung. Immer wieder brechen Proteste aus, die Kosten und Nutzen des iranischen Engagements in der Levante hinterfragen, zuletzt um den Jahreswechsel 2017/2018.

 

Ruhani hat im Sicherheitsapparat der Islamischen Republik Karriere gemacht und weiß, welche Hebel er ansetzen muss, um das System zu seinen Gunsten zu nutzen.

 

Obwohl die Notwendigkeit, militärisch gegen den IS vorzugehen, von der Regierung geteilt wird, scheinen die regionalpolitischen Aufwendungen auch der Ruhani-Administration Kopfschmerzen zu bereiten. Zugleich sind sich Ruhani und sein Team aus Technokraten bewusst, das Transparenz und Rechtssicherheit zwingende Voraussetzungen für den so dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung sind.

 

Die Implementierung des Atom-Abkommens und die damit einhergehenden Sanktionsaufhebungen sollten aus Sicht der Ruhani-Regierung die Grundlage schaffen, um das Reformprogramm auf Kurs zu bringen. Nun wird der Präsident von zwei Seiten in die Mangel genommen: Die unverantwortliche Sanktionsvolte der US-Regierung verhindert die Reintegration Irans in die weltweiten Handelsbeziehungen. Zugleich wachsen die Spannungen im Innern: Die Front in Syrien hat Eingang in die Innen- und Wirtschaftspolitik der Islamischen Republik gefunden.

 

Obwohl Ruhani grundsätzlich das Vertrauen von Revolutionsführer Ali Khamenei genießt, stieß seine Reformagenda von Beginn an auf beträchtlichen Widerstand im Land. Ruhani hat im Sicherheitsapparat der Islamischen Republik Karriere gemacht und weiß, welche Hebel er ansetzen muss, um das System zu seinen Gunsten zu nutzen. Aus diesem Grund ist er viel besser als jeder Führer aus den Reihen der Reformisten positioniert, um jenen Machtcliquen im Land Druck zu machen, die sich ihre eigene wirtschaftliche Komfortzone eingerichtet haben.

 

Solche Netzwerke operieren in Grauzonen. Sie profitieren einerseits von Vetternwirtschaft auf lokaler Ebene, aber auch vom Schwarzmarkt, den das Sanktionsregime erzwingt. Oft sind sie in der einen oder anderen Art mit einer religiösen Stiftung (»Bonyad«) verbandelt. Diese Institutionen agieren derart undurchsichtig, dass in den Augen vieler Bürger die Grenzen zur organisierten Kriminalität fließend sind.

 

Die Aufhebung der Sanktionen und der Handel mit Europa bedrohen das Schattenimperium aus religiösen Stiftungen, Konglomeraten und Schwarzmarkt.

 

Die Stiftung des Imam-Reza-Schreins in Maschhad gehört zu den mächtigsten Bonyads in Iran. Sie hat Anteile, Vermögen und Einfluss akkumuliert – ein Staat im Staate mit politischen Ambitionen. Ihr Vorsteher Ibrahim Raisi stieg 2017 zu Ruhanis Hauptkontrahenten bei den Präsidentschaftswahlen auf. Kulturelle Freiheiten im Innern sowie der Kurs der Wirtschaftspolitik unterschieden die beiden Bewerber um das Präsidentenamt während des Wahlkampfes.

 

Raisi verteidigte zudem das iranische Engagement in der Levante offensiv: Den Kampf gegen den IS in Syrien und jenen gegen Israel sieht er als zwei Seiten derselben Medaille. Doch Raisis Bekenntnis reicht weiter. So unterhält er enge Beziehungen zu verschiedenen irakischen Milizen, darunter den Anführern von Harakat Hizbullah Al-Nujaba und Asa’ib Ahl Al-Haqq, die als besonders radikale Vertreter der neuen Generation schiitischer Milizen gelten. Es ist nicht bewiesen, dass Geld aus Maschhad an diese Gruppen fließt. Angesichts der ideologischen und persönlichen Nähe zur Führungsriege wäre es aber nur folgerichtig.

 

Zudem hat Raisi ein Programm für Wohnungsbau und Sozialleistungen für die afghanischen Veteranen der »Fatemiyun«-Brigade und deren Angehörige aufgelegt. Insbesondere die Tatsache, dass Raisi die schlachterprobten Kämpfer in seinem Heimatdistrikt ansiedelt, sorgt für Spekulationen: Sammelt der 58-jährige Kleriker eine Schattenarmee, die im Ernstfall Widerstand niederschlagen soll, falls die innenpolitische Lage außer Kontrolle gerät?

 

In jedem Fall verfolgt Raisi mit seinem Bekenntnis für das iranische Engagement in Syrien auch eigene ökonomische Interessen. Der Stiftungsleiter ist sich nur allzu bewusst, dass eine Wirtschaftsreform, die vor allem vom Handel mit Europa getragen wird, dafür sorgen könnte, dass die Tage des Schattenimperiums aus undurchsichtigen Konglomeraten bald gezählt sein könnten. Solange diese Richtungsentscheidung nicht unmittelbar vor der Tür steht, wird Raisi weiter im Innern für den Syrien-Einsatz trommeln und die Beziehung zu verschiedenen Milizen in der Region vertiefen.

 

Scheitert Ruhani mit seinem Reformkurs, werden die Hardliner um Raisi Teherans Kurs auf Jahre hinweg bestimmen.

 

Dieser Kurs erinnert verdächtig an die frühen Tage der Islamischen Republik. Anfang der 1980er Jahre gab ein Zirkel schiitischer Aktivisten mit Gespür für eigene wirtschaftliche Vorteile den Ton innerhalb des Außenamtes der Revolutionsgarden an. Diese Gruppe sprach sich damals für eine weltweite Ausweitung von Anschlägen aus – und rechtfertigte dieses Eskalation mit ganz ähnlichen Argumenten wie heutzutage Raisi. Nach sechs Jahren hatten sich die Hasardeure in eine Sackgasse manövriert. Ihrem Rädelsführer Mehdi Haschemi wurde 1987 der Prozess gemacht, der mit der Hinrichtung endete. In der Folge wurde die Professionalisierung der iranischen Außenpolitik, insbesondere im Hinblick auf das strategische Vorgehen im Nahen Osten, in Gang gesetzt.

 

Wenn die internationale Gemeinschaft Iran daran hindern will, eine destruktive Rolle in der Region zu spielen, muss dem Land die Gelegenheit gegeben werden, von den Wirtschafts- und Rechtsreformen zu profitieren, die die Umsetzung des Atomabkommens zeitigt. Ansonsten werden Raisi und gleichgesinnte Hardliner Teherans Kurs auf Jahre hinweg bestimmen – und eine Konfrontation zwischen Iran und dem Westen würde immer wahrscheinlicher. Immer deutlicher wird aber auch, dass einige Politiker dieses Risiko ganz bewusst und mit strategischem Kalkül in Kauf nehmen.

Von: 
Walter Posch

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.