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Musiker Görkem Sengel über Deutschland und die Türkei

»Es macht mich traurig, dass wir uns so wenig kennen«

Interview
Musiker Görkem Sengel über Deutschland und die Türkei
Görkem Sengel

Görkem Sengel möchte seinen türkischen Freunden deutsche Geschichten erzählen und seinen deutschen Freunden, türkische Geschichten. Dabei helfen ihm unter anderem Lieder von Hildegard Knef.

zenith: Ihr gerade erschienenes Lied »Bu şehir« ist eine türkische Übersetzung von Hildegard Knefs »In dieser Stadt«. Was inspiriert einen jungen Menschen wie Sie, alte Musik neu zu interpretieren?

Görkem Sengel: Hildegard Knef habe ich schon als Kind immer sehr gerne gehört. Ich mag generell ältere Musik lieber als moderne Lieder, weil die älteren Texte viel mehr bieten. Das erste Lied aus dem Projekt »Komm, lehr mich und geh« ist der 20 Jahre alte türkische Song »Gel, ögret ve Git«, den wir ins Deutsche übersetzt haben. Das war früher eines meiner Lieblingslieder.

 

Worum geht es in Ihrem aktuellen Projekt noch?

Vor zweieinhalb Jahren war ich verzweifelt, was meine Musik anging. Ich hatte das Gefühl, nichts mehr zu sagen zu haben. Deshalb habe ich nach einem neuen Weg gesucht. Zusammen mit meinem Produzenten in der Türkei hatte ich dann die Idee, Lieder auszuwählen, die ihre eigene Geschichte mitbringen, um aus denen wiederum eine andere Geschichte zu ziehen. Indem wir vom Türkischen ins Deutsche und vom Deutschen ins Türkische übersetzen, wollen wir unseren türkischen Freunden deutsche Geschichten erzählen und unseren deutschen Freunden türkische Geschichten.

 

»Auf Deutsch gibt es kein Wort für gönül«

 

In der Ankündigung für Ihre neue Single heißt es, dass Ihre Lieder Brücken zwischen der Türkei und Deutschland bauen. Ist das ein politisches Projekt?

Es macht mich traurig, dass wir uns alle so wenig kennen. Deutsche und Türken leben schon so viele Jahre miteinander und wissen trotzdem so wenig übereinander. Musik ist der einfachste Weg, Menschen zu verbinden. Deshalb hoffe ich, dass meine Musik eine Möglichkeit bietet, sich gegenseitig zuzuhören. Vor allem ist meine Musik aber eine persönliche Geschichte, weil ich durch sie versuche, zwischen den beiden Ländern in mir eine Brücke zu bauen und ein Gleichgewicht herzustellen. Es ist also schon etwas Politisches an meiner Musik und wenn ich damit andere inspirieren kann, ist das natürlich schön. Aber es steht keine politische Mission dahinter.

 

Sie machen schon lange Musik, aber »Komm, lehr mich und geh« war im April 2020 das erste Lied, das Sie auf Deutsch veröffentlicht haben.

Auf Deutsch zu singen, ist für mich neu und ich hätte nicht gedacht, dass es mich so befriedigt. Ich gehöre zu den Deutschtürken, die erst sehr spät mit der Seele in Deutschland angekommen sind. Der Wunsch, überhaupt auf Deutsch zu singen, ist deshalb noch gar nicht so alt. Ich hätte mir das vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, weil Musik für mich immer mit der türkischen Sprache verbunden war. Durch das Pendeln zwischen Deutschland und der Türkei konnte aber etwas in mir heilen und ein Teil von mir ist in Deutschland angekommen. Dann wollte ich auch etwas Deutsches mit meiner Musik sagen.

 

Stellen Sie beim Übersetzen der Lieder viele Unterschiede zwischen den Sprachen fest?

Absolut. In »Komm, Lehr Mich Und Geh« haben wir ja zum Beispiel das Wort »gönül« nicht ins Deutsche übersetzt, was auf Deutsch oft mit »Herz« übersetzt wird. Aber eigentlich beinhaltet »gönül« noch viel mehr und bedeutet Herz, Seele und geht irgendwie auch noch darüber hinaus. Auf Deutsch gibt es kein Wort dafür.

 

»Wichtiger als formelle Staatsangehörigkeit sind Sprache und die Kultur«

 

Unterscheidet sich die Reaktion auf Ihre Musik in Deutschland und der Türkei?

Ich habe meine Musik lange nur in der Türkei veröffentlicht. Erst das aktuelle Projekt ist auch auf dem deutschen Markt veröffentlicht worden. Interessanterweise kommt meine deutsche Musik in der Türkei sehr gut an, und hier in Deutschland ist die türkische Musik beliebter.

 

Haben Sie manchmal das Gefühl, sich zwischen Deutschland und der Türkei entscheiden zu müssen?

Mich hat lange beschäftigt, dass ich mich ortlos gefühlt habe und weder in Deutschland, noch in der Türkei angekommen bin. Ich hatte schon oft das Gefühl, weder zur deutschen, noch zur türkischen Gesellschaft zu gehören. In Deutschland bin ich der Türke, in der Türkei der Deutschtürke. Ich glaube nicht, dass die Probleme, die durch nationale Grenzen entstehen, jemals gelöst werden. Für mich ist es am gesündesten, dass ich mich von klassischen Heimat-Vorstellungen gelöst habe, und Heimat in mir selbst gefunden habe. Heute weiß ich, dass ich mich nicht entscheiden muss. Das war ein langer Prozess, aber mittlerweile fühle ich das auch in meiner Musik. Wenn ich auf Deutsch singe, dann bin ich deutsch, wenn ich auf Türkisch singe, bin ich türkisch. Wichtiger als eine formelle Staatsangehörigkeit sind für mich sowieso die Sprache und die Kultur.

 

Welche Lieder werden Sie als nächstes übersetzen?

Ich lasse »Bu şehir« jetzt erstmal seinen Weg finden, aber ich träume schon von einigen Liedern, die ich gern irgendwann produzieren würde. Musik ist aber nur ein Teil meines Lebens und ich mache noch viele andere Dinge. Ich vermisse meinen tollen Freundeskreis in der Türkei und meine Mutter lebt mittlerweile auch wieder dort. Also überlege ich, wieder in die Türkei zu ziehen. Ich möchte gerne etwas ländlicher leben und ich glaube, in Deutschland ist man auf dem Land schnell alleine – in der Türkei wäre das nicht so, da ist auch das Dorfleben lebendig. Aber in dieser unruhigen Zeit vertraue ich darauf, dass im Leben schon alles so passieren wird, wie es soll.


Der in Izmir geborene und in Hamburg aufgewachsene Musiker Görkem Sengel arbeitet seit April 2020 an einem besonderen Projekt: Er übersetzt deutsche Popsongs ins Türkische, und berühmte türkische Musik ins Deutsche. Nach »Komm, lehr mich und geh«, Sengels Version von »Gel, ögret ve Git« des türkischen Musikers Mete Özgencil, veröffentlichte er im Januar 2021 »Bu şehir«, seine türkische Übersetzung von Hildegard Knefs Lied »In dieser Stadt«.

Von: 
Lilith Daxner

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