Zehn Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings gewährt »Ich kann nicht alleine wütend sein« Einblicke in die postrevolutionäre Gefühlswelt tunesischer Frauen. Eine literarische Sammlung ganz unterschiedlicher Erfahrungen.
»In meiner Kehle sitzt ein Stamm von Frauen«, bringt die Dichterin Amal Khlif Claudel auf den Punkt, was in den vorliegenden Texten geschieht: Eine Auswahl aktueller Stimmen, die sich im Namen der Frau und anderer von männlicher Vorherrschaft Unterdrückten zu Wort melden. In ihrem titelgebenden kurzen Text »Ich kann nicht alleine wütend sein« kommt aber auch die Zweischneidigkeit dieses Unterfangens zum Ausdruck.
Denn gerade im tunesischen Kontext, wo die rechtliche Gleichstellung in vielen Bereichen früh vollzogen wurde, ist die Frau nicht einfach unterworfen und ohne Stimme, sondern viel zu oft fügsam. In der Kehle Claudels steckt also ein Schrei nach Freiheit, der nicht allein stellvertretend, sondern gerade auch aufrüttelnd an die Genossinnen des eigenen Geschlechts gerichtet ist.
Das ist auch zehn Jahre nach Beginn des arabischen Aufstand noch relevant, der ja in Tunesien seinen Ausgang nahm – getragen von zahlreichen Aktivistinnen. Die Anerkennung ihrer Emanzipation lässt weiter auf sich warten. Die poetischen, essayistischen, anklagenden Texte offenbaren, welche neuen Impulse dieser Wartezustand hervorbringt.
Die meisten der versammelten Autorinnen kamen erst durch ihren Aktivismus zum Schreiben. Manche ihrer Zeilen haben »Kein Streben keinen Traum keine Zukunft«, andere zeugen nackt von »blauen Malen« oder schäumen lustvoll wie glühende Gischt »an der Wange des Vulkans ... Ausbruch, Verschmelzung und Erlöschen«. Dabei bildet eine Trias aus Warten, Kämpfen, Dichten einen wiederkehrenden Bezugspunkt.
Warten – Zwischen Auf- und Abbruch
Yosra Esseghir, von der auch einige programmatische Texte über Sein und Werden des Chaml-Kollektivs (sprich: schäml) enthalten sind, beschreibt in ihrem Gedicht »Eine Frau, die wartet« den sich hinziehenden Schwebezustand als ein Warten ohne Stillstand. »Ich warte auf die Liebe / und währenddessen / liebe ich«. Dass diese Liebe alles andere als monogam oder heterosexuell sein muss, ist Teil des Selbstverständnisses des Kollektivs und Ansatzpunkt der explizit feministischen Gesellschaftskritik.
Doch Warten an sich ist natürlich kein rein hoffnungsfroher Zustand. Von der Unerträglichkeit und Ausweglosigkeit der Gegenwart spricht Leïla Mejdi, die unter dem Titel »Suspendierte Mutterschaft« schreibt: »Ich lag gelehnt an einen der Heizkörper und wartete darauf, dass alles aufhört. Endlich. Kein Aufbruch, sondern der Abbruch verheißt Erlösung.«
Solange sich nichts ändert, bergen außereheliche Beziehungen und ihre Folgen in erster Linie für Frauen eine Gefahr. Ihr Körper ist in vielerlei Hinsicht das Schlachtfeld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Fast alle Autorinnen sprechen von Krieg. Doch von welchem Krieg ist die Rede?
Kämpfen – Krieg den Tabus
In gewisser Weise setzt sich die Dekolonisierung, der tunesische Unabhängigkeitskrieg, für die Frauen fort. Allerdings meint Rania Majdoub: »Das ist nicht unser Krieg« – »Haben wir nicht gerufen: Der tunesische Aufstand hier, der ägyptische Aufstand dort, die Revolution, die Revolution jagt die Machthaber fort?«
In ihren Augen führte der Lauf der Geschichte zurück in den Stillstand. »Und nun … Stehen wir Schlange am Rand unseres sinnlosen Todes.« Doch mit den Worten Mahmoud Darwischs stemmt sie sich diesem unabwendbaren Schicksal entgegen: »Unsere einzige Möglichkeit ist der Glaube an das gestalterische Potenzial in der Revolution und die Revolution im gestalterischen Potenzial.« Wille und Wort werden zur weiblichen Waffe der Wahl und hallen in den Texten des Chaml-Kollektivs in einer immens facettenreichen Vielfalt wider.
»Die kichernde Klitoris« (Z.R.)
Genug mit eurem Phallus-Wahn
Ich ruf die Weiber auf den Plan!
Negiert zu sein, bedeutet Frust
Und ich bin doch der Quell‘ der Lust
Ich bin der Zugang zu der Welt
Die in Kontrollverlust verfällt
…
Ich tue gut, das ist gewiss
Ich bin die kichernde Klitoris
Die schreibenden Frauen geben sich humoristischen Gedankengängen ebenso hin wie nachdenklichen Reflexionen, kommen vom Persönlichen zum Allgemeinen, und kehren so eine unbeugsame Selbstachtung hervor. Die Offenherzigkeit, mit der die Autorinnen Intimstes thematisieren, stellt noch immer einen Tabubruch dar – ein revolutionäres Moment sozusagen, auch für das postrevolutionäre Tunesien.
In allen arabischen Ländern sind Politik und Sexualität starken Repressionen unterworfen. Das Schweigen zu brechen, ohne allein die eigenen Erfahrungen oder Gefühle zur Schau zu stellen, ist in doppelter Hinsicht ein politischer Akt: Einerseits wird das Bestehende öffentlich angeprangert, um andererseits Neues, Unerhörtes hervorzubringen und anzustoßen.
Dichten – Die Emanzipation des Selbst
Der programmatische Impetus der sogenannten Kifaya-Literatur (arabisch für »Es reicht!«) der Nullerjahre liegt dem Chaml-Kollektiv fern. Es versteht sich in erster Linie als Keimzelle, als ein geschützter Raum für den Erfahrungsaustausch und das gegenseitige Empowerment. »Ich war auf Irrwegen und fand zurück zu uns, zu dir und mir, ich trage dich und du trägst mich. Du, mein Körper, Verpackung und Inhalt«, so die Journalistin Hajer Boujemaa in dem Band.
Die Emanzipation des Selbst geht der kollektiven Befreiung voraus. Schaufenster dieses Prozesses bildet der Blog, dem die übersetzten Texte entnommen sind, und der auch weiterhin aktiv ist. Insgesamt 16 tunesischen Autorinnen verleiht Herausgeberin und Übersetzerin Leonie Nückell mit der Anthologie eine deutsche Stimme. Die Übersetzung der Kurzprosa, Gedichte und Essays aus dem Internet ins Buch ist bravourös gelungen. Das Echo ihrer Stimmen, »deren einzige Heimat der Mensch ist« (Yosra Esseghir), ist so auch bei uns zu vernehmen.
Ich kann nicht alleine wütend sein
Leonie Nückell (Hg.)
Verlag Schiler&Mücke, 2020
114 Seiten. 14 Euro