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Deutschland, Tunesien und sichere Herkunftsstaaten

Der tunesische Rechtsstaat darf sich nicht vorführen lassen

Kommentar
Kolumne Daniel Gerlach

Sicher ist relativ: Das gilt in Tunesien nicht nur für Dschihadisten. Auch deutsche Politiker können sich das hinter die Ohren schreiben.

Im Streit um die Abschiebung von Sami A., dem sogenannten Leibwächter Osama Bin Ladens, steckt alles, worüber sich die deutsche Politik in diesem Sommer erregen könnte. Man hört viele Stimmen, die sagen, dass das mit dem Rechtsstaat schon seine Berechtigung habe. Aber dass man gefälligst dafür sorgen müsse, dass dieser Rechtsstaat sich nicht selbst vorführt. Nicht, wenn Gefahr im Verzug sein könnte. Und auch nicht, wenn es um Terroristen geht – oder sogenannte Gefährder, die Terroristen waren oder jederzeit welche werden könnten.

 

An den Tunesiern scheint die Affäre um ihren Landsmann Sami A. mehr oder weniger vorüberzugehen. In jedem Fall regen sie sich nicht so darüber auf, zumal zur gleichen Zeit ein ähnlicher Abschiebungsfall aus Italien anhängig ist. Die tunesischen Behörden haben ihren deutschen Kollegen ja einen Gefallen damit getan, dass sie ihre Zuständigkeit erklärten – mit dem Verweis darauf, dass man Sami A. nicht foltern werde, aber von ihm womöglich sachdienliche Hinweise für die Aufklärung dschihadistischer Straftaten erwarte.

 

Nun fiel der Fall Sami A. zusammen mit der seit Monaten schwelenden Diskussion um Marokko, Algerien und Tunesien, die »sichere Herkunftsstaaten« werden sollen. Einen entsprechenden Entwurf hat das Bundeskabinett gerade erst gebilligt. Viele im politischen Betrieb meinen, dass das nicht angehen könne: Man zahlt Millionen an Aufbau- und Entwicklungshilfe an Tunesien und dann kann man nicht einmal dorthin abschieben? Und CDU-Mann Jens Spahn findet, dass Tunesien ohnehin ein sicheres Herkunftsland sein müsse, denn Europäer machten dort schließlich auch Urlaub.

 

Der Linken-Politiker Stefan Liebich dagegen äußerte neulich im Deutschlandfunk, dass Tunesien zwar insgesamt auf gutem Weg sei. Er berief sich aber auf Menschenrechtsorganisationen, die berichteten, »dass sich in den Gefängnissen eigentlich nichts geändert hat, dass Gewalt und Folter dort bis heute an der Tagesordnung sind«. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International berichten in der Tat von dokumentierten Misshandlungen durch Polizei, Nationalgarde und Ermittlungsbehörden. Amnestys Tunesien-Experte Ilyas Saliba wies neulich in einem Interview mit dem Focus auch auf die zum Teil üblen hygienischen Zustände in Untersuchungsknästen hin. Dennoch kam bei der deutschen politischen Debatte um Sami A. die Lage in Tunesien ein wenig zu kurz. Derzeit wird unter tunesischen Anwälten das Problem diskutiert, dass die Behörden Verdächtige nach ihrer Verhaftung 48 Stunden lang verhören können, ohne Beistand vorzulassen.

 

Man fürchtet öffentlichen Druck

 

Das gilt aber auch in Tunesien im Einzelfall, und zwar dann, wenn Gefahr im Verzug ist oder ein Fall von öffentlicher Sicherheit vorliegt. Die Polizisten müssen sich dieses Verfahren von einem Ermittlungsrichter genehmigen lassen – dabei haben sie natürlich Spielraum, denn sie können die Dringlichkeit eines Falles natürlich entsprechend aufbauschen. In der Praxis besteht ein anderes Problem: Nicht jeder Tunesier hat die Kontakte und die finanziellen Möglichkeiten, morgens um zwei nach einer Verhaftung einen Anwalt zu erreichen. Menschenrechtsgruppen und Anwälte fordern deshalb die Einrichtung einer Art Pflichtverteidigernotdienst.

 

Diese Aspekte sind keine unbedeutenden Details: Auch unter der Diktatur Ben Alis mag es für jede Schweinerei des Apparates ein juristisches Prozedere gegeben haben. Heute aber sind die Tunesier – und anscheinend auch eine neue Generation Staatsdiener – für Rechte und Verstöße sensibilisiert. Das nicht, weil sie europäische Menschenrechtsfortbildungen erhalten haben, sondern weil Polizeigewalt und -willkür seit 2011 nicht aus der öffentlichen Diskussion verschwunden sind. Es entstand vielmehr das Bild eines Landes, das zwar international als demokratischer Primus des Arabischen Frühlings sein will, aber von lieb gewonnen Traditionen und bewährten Praktiken nicht lassen kann: Prügel, Elektroschocks, Androhung von Vergewaltigung von Terrorismusverdächtigen. Dieses Bild würden viele Tunesier – ob Staatsbeamte oder nicht – energisch zurückweisen. Und darauf verweisen, dass sich tatsächlich etwas tut.

 

Gerade der Einsatz von Medien und Menschenrechtsgruppen und Familien von Betroffenen, die sich mit letzteren vernetzen, leistet dazu einen Beitrag. Wer sich bei tunesischen Polizisten, der Nationalgarde oder Mitgliedern von Anti-Terror-Einheiten umhört, stößt auf größere Verunsicherung. Gerade jüngere Offiziere fürchten, dass man sie öffentlich an den Pranger stellt. Im vergangenen Jahr wurde eine ganze Einheit in Tunis suspendiert, weil sie einen Verdächtigen geschlagen, psychologisch unter Druck gesetzt und ihm längere Zeit den Schlaf entzogen haben.

 

Auch wenn die Straflosigkeit für Polizeikräfte noch immer bemängelt wird und eine Suspension sicher nicht das Leid aufwiegt, das Folteropfer erfahren: Man fürchtet öffentlichen Druck, wenn sich Folterspuren nachweisen lassen und steht zugleich doch vor dem Problem, dass man Ermittlungsergebnisse vorweisen muss. Und dies nicht nur, weil man Karriere machen will, sondern weil die Lage ernst ist in Tunesien.

 

Der Geist Ben Alis soll gebannt sein für alle Zeiten

 

Nach den Anschlägen von Sousse und Tunis-Bardo im Jahr 2015, bei denen viele ausländische Urlauber starben, mag die Gefährdung des Landes etwas aus unseren Medien verschwunden sein (zum Glück für die dortige Tourismus-Industrie). Im Inland aber, an der algerischen Grenze und in den Bergen, sterben in regelmäßigen Abständen Menschen, oft junge Polizisten, Grenzschützer und Militärs. Erst Anfang Juli fielen sechs Nationalgardisten einem Hinterhalt der Gruppe »Al-Qaida im Maghreb« (AQMI) zum Opfer. Immer wieder fahren ungepanzerte Patrouillenfahrzeuge in Sprengfallen.

 

Und während die deutschen Sicherheitsdienste mit ein paar hundert Gefährdern und ein paar Dutzend IS-Rückkehrern aus Syrien schon ausgelastet sind, sind es in Tunesien tausende. Hinzu kommen Dschihadisten aus Libyen, deren Druck noch größer werden wird, wenn sich die Lage im Nachbarland nicht bald stabilisiert. Beim Rechtsstaat sollte man keine Kompromisse machen und darauf pochen, dass Tunesien seine Standards verbessert. Aber in solchen Diskussionen tut es not, sich hin und wieder in Erinnerung zu rufen, womit es die Tunesier zu tun haben. In einer solchen Belastung würde wohl auch ein europäischer Rechtsstaat an seine Grenzen stoßen.

 

Und bei der Frage, inwiefern Folter, Gewaltanwendung oder zumindest Gewaltandrohung bei Verhören von Terrorverdächtigen akzeptabel wäre, gehen auch in Tunesien die Meinungen auseinander. Es gibt – vermutlich aus gutem Grund – keine Umfragen und keine öffentlichen, politischen Diskussionen dazu. Manche Tunesier meinen, dass die Mehrheit der Bevölkerung wie viele Deutsche im Fall Sami A. denke. Oder wie im Entführungsfall Jakob von Metzler 2003: Rechtsstaat ist gut, aber wenn es um die Vereitlung eines Terroranschlags oder die Rettung eines Kindes geht, darf er sich nicht vorführen lassen (nach tunesischem Gesetz ist im Übrigen auch psychische Gewalt sowie die Androhung von Gewalt rechtswidrig).

 

Andererseits scheint das Bewusstsein weit verbreitet, dass die Zeit der Folter für immer vorüber sein sollte – und dass der Geist Ben Alis gebannt sein soll für alle Zeiten. Die wenigsten Tunesier wünschen sich einen Polizeistaat zurück. Und es ist wohl die Überwindung dieser Grausamkeit, der Willkür und des Machtmissbrauchs, die sich über jede Nostalgie erhebt.

 

Ob ihr Land nun ein sicheres Herkunftsland ist oder nicht, müssen nicht die Tunesier, sondern der deutsche Gesetzgeber entscheiden. Fest steht: Sicher ist in Tunesien relativ.

Von: 
Daniel Gerlach

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