Die politischen Dramen des Mittelmeers erleben die Fischer von Bizerte besonders. Eine neue Spezies schnappt ihnen neuerdings den Fang weg. Und sie müssen sich in die Gewässer eines Bürgerkrieges wagen.
Hamzi Jaziri starrt wehmütig auf die See und scherzt, dass die jungen Fischer nicht mehr aus dem gleichen Holz geschnitzt seien wie die alten Haudegen. Hier, in der Bucht von Bizerte, trat der heute 73-Jährige im Alter von 15 Jahren in die Fußstapfen seines Vaters. Er wirft schon so lange die Netze aus, wie es den Staat Tunesien überhaupt gibt.
Am liebsten erzählt Jaziri von seinem größten Fang: 1975 ging ihm ein weißer Hai ins Netz, vier Meter lang, 770 Kilogramm schwer. Damals habe er ein größeres Boot besessen und die Fischgründe an der tunesischen Nordküste seien ergiebiger und artenreicher gewesen. Die Mittelmeer-Mönchsrobben, die früher Jaziris Boot hinterherschwammen, sind mittlerweile ausgestorben. Und auch im Hafen, in dem einst um die begehrten Anlegeplätze gerungen wurde, ist es stiller geworden. »Früher wollte jeder Vater, dass sein Sohn Fischer wird, so lukrativ war der Beruf«, erinnert sich Jaziri.
Insbesondere im Winter fahren ihm Kälte und Nässe in die Knochen, doch der ständige Wellenwechsel hält ihn in Bewegung. So trotzt der Rentner Wind und Wetter und sucht nach Europäischen Wolfsbarschen und Goldbrassen, den beiden wichtigsten kommerziellen Speise scharten vor Bizerte.
Seit Bizerte um 1100 vor Christus als Handelsposten von phönizischen Händlern gegründet wurde, starten von hier Fischerboote. Für die Männer, die noch heute in ihren kleinen Holzkuttern an der Küste schippern, ist die Fischerei Familientradition und wichtigste Einkommensquelle.
Um das Hafenareal windet sich der Mauerring der Kasbah, deren Fundamente noch aus byzantinischer Zeit stammen. Fischfang, -verkauf und -verzehr gehen hier noch immer Hand in Hand. Gleich neben den Docks preisen die Händler auf dem Fischmarkt ihre Ware an, die dann umgehend in einem der vielen kleinen Cafés aufgetischt wird. Der moderne Tiefseehafen von Bizerte, über den die Küstenstadt heute an den Warenverkehr im Mittelmeer angebunden ist, erscheint vom mediterranen Idyll am alten Hafen der 140.000-Einwohner-Stadt allerdings Welten entfernt.
Von dem Tiefseehafen aus legen die Flotten im Besitz der wohlhabenden tunesischen Wirtschaftselite ab, die oft mit dubiosen Sportangler-Lizenzen operieren und den Fischern von Bizerte die Fanggründe streitig machen. Artensterben und Umweltverschmutzung tun ihr Übriges, um die Lebensgrundlage der Fischer zu untergraben. Und zu allem Überfluss versiegen auch die Fördergelder der Politik. Keine guten Aussichten, um die traditionelle Küstenfischerei auch über die nächste Generation hinaus in Bizerte zu bewahren.
Die Klein scher von Bizerte können in ihren Kuttern bis zu zehn Seemeilen weit vorstoßen. Der Ertrag schwankt. An einem guten Tag bekommt ein Fischer bis zu 250 Dinar, umgerechnet 100 Euro, für seinen Fang. Allerdings müssen für jede Fahrt die laufenden Kosten für Treibstoff von mindestens 70 Dinar gestemmt werden. Dazu kommen die Ausgaben für Köder sowie Reparaturkosten für beschädigte Netze. An einem schlechten Tag zahlt ein Fischer also schon mal drauf.
»Die großen Kutter fangen uns alles weg. Und die Zuckerfabrik in Bizerte entleert ihre toxischen Abfälle ins Meer, sodass die Fischschwärme und die Kopffüßer in der Gegend verenden«
Walid Albjawi lehnt an der Hafenmauer. Auch der 29-jährige Fischer fährt schon so lange zur See, wie er denken kann; wie fast jeder in seiner Familie. Er bezweifelt, ob sein fünfjähriger Sohn Fehdi, der unbeschwert an der Hafenkante entlangbalanciert, die Tradition fortführen wird. »Uns bleibt nicht mehr genug Fisch«, erklärt er und sieht die Schuld dafür bei den großen Fangflotten und den Industriebetrieben an der Küste. »Die großen Kutter fangen uns alles weg. Und die Zuckerfabrik in Bizerte entleert ihre toxischen Abfälle ins Meer, sodass die Fischschwärme und die Kopffüßer in der Gegend verenden.«
Dabei ist die Gewässerverschmutzung weniger wirtschaftlicher Aktivität geschuldet, sondern weist auf technologische Rückständigkeit und industriellen Verfall an der Küste hin. »Die Industrieabwässer sind das wirkliche Problem«, ist auch Morched Garbouj überzeugt. Seine Umwelt-NGO »SOS BIAA« hat die Abwässer eingehend untersucht. »Trotz Aufbereitungsprozess ist der Unterschied zwischen dem Abwasser, das in die Kläranlagen fließt, und dem behandelten Abwasser, das ins Meer gelangt, oft nur minimal.«
»Man weiß nie, wie viel man noch verdienen kann. Viele Kollegen arbeiten mittlerweile als Taxifahrer. Das ist auch nicht so anstrengend, wie aufs Meer zu fahren«
Auch die Schwerindustrie entlang der tunesischen Mittelmeerküste ist für die Umweltverschmutzung verantwortlich. »Es geht hier nicht nur um eine einzelne Zuckerfabrik. Die gesamte Industrie im Raum Bizerte ist in dieser Hinsicht problematisch«, sagt Garbouj. Neben der Wasserqualität hat die NGO auch die Auswirkungen auf die Fanggründe untersucht. Doch trotz alarmierender Erkenntnisse fanden ihre Pressekonferenzen zu dem Thema nur wenig Beachtung. Tunesien kämpft mit beständiger Wirtschaftsmisere und steigender Arbeitslosigkeit. Unter diesen Umständen fällt es schwer, ein Bewusstsein für den nachhaltigen ökologischen – und ökonomischen – Schaden für die tunesische Mittelmeerküste zu schaffen.
Die Betroffenen müssen nun ihre Konsequenzen aus dem Niedergang der Küstenfischerei ziehen. So wie Khaled Fris, der vor zehn Jahren einen Beruf an den Nagel gehängt hat, den seine Familie seit Generationen ausgeübt hat. »Es ist es nicht mehr wert. Man weiß nie, wie viel man noch verdienen kann – oder ob man überhaupt noch etwas verdienen kann. Viele Kollegen arbeiten mittlerweile als Taxifahrer. Das ist auch nicht so anstrengend, wie aufs Meer zu fahren.« Der 29-jährige Khaled Fris hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. In seinen alten Beruf will er auf keinen Fall zurückkehren. Das Leben als Küsten scher gerät immer mehr zum Auslaufmodell in Bizerte. Ein Grund dafür ist auch der hohe körperliche Tribut, den die Fischerei bei immer niedrigerem Ertrag fordert. »Die alten Fischer sind chronisch krank. Sie zahlen den Preis dafür, dass sie ihr Leben auf hoher See in ständiger Kälte und Nässe verbracht haben«, sagt Fris.
Dabei sind einige der Fischer durchaus willens, ihre Ausrüstung zu modernisieren, um im Geschäft zu bleiben. Doch Tunesiens Bürokratie macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Jamel Mouhalib hatte kurz nach der Revolution 29.000 Dinar in einen Trawler investiert – annähernd so viel wie der durchschnittliche Nettojahresverdienst in Tunesien. Doch weil er nicht alle notwendigen Papiere rechtzeitig auftreiben konnte, hängt seine Fanglizenz in der Schwebe. Seinen Verdienst, von dem neben seiner Frau und den beiden Kindern auch seine Eltern abhängig sind, bestreitet er notgedrungen erst einmal weiter mit seinem alten Kutter.
Wie viele seiner Kollegen fühlt sich Mouhalib von der undurchsichtigen und aus seiner Sicht ungerechten Lizenzvergabe benachteiligt. Nicht nur die kommerziellen Fangflotten im Mittelmeer bedrängen die Küsten scher. Tunesiens Mittelklasse hat im Fischfang einen Weg gefunden, dem drohenden sozialen Abstieg zu begegnen. Immer mehr Lehrer, Anwälte und Ärzte bemühen sich um Fanglizenzen, um ihr Einkommen aufzubessern. Meist beantragen sie Lizenzen für die Sportfischerei, die die Ausrüstung auf Angeln und die Fangmenge auf fünf Kilogramm begrenzt. Doch die Einhaltung dieser Richtlinien wird kaum überprüft. »Sie sind reich«, regt sich Mouhalib auf, während er an seinem Boot im Hafen von Bizerte die Netze spannt. »Sie rüsten ihre Boote mit Sonar aus und fischen alles weg. Und sie scheren sich nicht um die Brutzeiten der verschiedenen Fischarten und bringen die Bestände aus dem Gleichgewicht.«
»Sie rüsten ihre Boote mit Sonar aus und fischen alles weg. Und sie scheren sich nicht um die Brutzeiten der verschiedenen Fischarten und bringen die Bestände aus dem Gleichgewicht«
In der Landwirtschaft und Fischerei finden sich 15,2 Prozent der tunesischen Arbeitsplätze. Die staatlichen Zuwendungen in Form von Nachlässen oder Gutscheinen für Ausrüstung gehen allerdings zur Neige – weil die Kassen leer sind. »Früher gewährten die Behörden diese Zuwendungen regelmäßig einmal pro Jahr, mittlerweile höchstens noch alle zwei, drei Jahre«, sagt Foued Hachani von der zuständigen Gewerkschaft »Union Tunisienne de l’Agriculture et de la Pêche« (UTAP). Die Fischer am Kai von Bizerte sagen, sie hätten zuletzt 2014 einen staatlichen Zuschuss erhalten.
Hachani wirft den Behörden zudem vor, die staatlichen Vorgaben für Fangflotten nur lax umzusetzen – und die Küsten scher so zu benachteiligen. »Die großen Trawler dürfen eigentlich nur in einem bestimmten Bereich ab 50 Metern Tiefe fischen. Doch oft genug steuern sie auch flachere Gewässer an. Zugleich räumen sie mit ihren Schleppnetzen den Meeresboden ab.«
Verbittert und sehnsüchtig schauen Tunesiens Küsten scher deshalb Richtung Osten: Nach Angaben von UTAP sind die Gewässer vor der Küste Libyens weit ertrag- und artenreicher. Doch trotz der verlockenden Aussichten scheuen die Küsten scher von Bizerte das Risiko. Obwohl der libysche Staat in vielerlei Hinsicht kaum funktionstüchtig ist, nimmt die libysche Küstenwache den Schutz vor illegaler Fischerei ernst und setzt auf Abschreckung.
Im Dezember 2016 hatten es 54 tunesische Küsten scher dennoch versucht. Zwar wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt. Zuvor waren ihre Boote aber unter Beschuss genommen worden und die Männer in Libyen festgesetzt worden. Nicht nur viele tunesische Küsten scher mutmaßen, dass die Fischgründe vor der libyschen Mittelmeerküste deshalb so reich seien, weil die dortigen Fischerboote mittlerweile vor allem für den Schmuggel von Menschen und Benzin umfunktioniert würden.
Zurück auf seinem Boot denkt Jamil Mouhalib über die Zukunftsaussichten seines Berufs nach. Ob seine Kinder in seine Fußstapfen treten sollen? »Nein, mein Sohn soll studieren. Er muss einen anderen Weg einschlagen. Meine Generation hat noch Glück gehabt, wir konnten uns irgendwie durchschlagen. Für die, die nach uns kommen, gibt es keine Zukunft als Fischer. Das war’s.«
Hamzi Jaziri sticht noch immer in See, weil er darauf angewiesen ist. Er bessert so seine Rente von umgerechnet 62 Euro auf. Eine kommerzielle Fanglizenz besitzt er allerdings nicht mehr. Er gibt sich mit dem zufrieden, was ihm ins Netz geht. »Für gewöhnlich lege ich um zehn Uhr morgens ab und bleibe bis etwa sieben Uhr abends auf See – auch im Winter. Solange es Fisch gibt, werde ich weiterfischen.«