Analystin Kholood Khair erklärt im Interview, was für Sudans Frauen im Zuge der Revolution auf dem Spiel steht – und wie sie die politische Kultur verändern könnten.
zenith: Wäre Omar Al-Baschir immer noch an der Macht, wenn sich nicht so viele Frauen gegen ihn gewandt hätten?
Kholood Khair: Früher hielten sich Proteste im Sudan immer nur wenige Wochen, doch diesmal konnte die Bewegung über fünf Monate aufrechterhalten werden und nahm auch mit dem Sturz Baschirs kein Ende. Das gesamte Leben als Frau im Sudan besteht daraus, unfreiwillig Geduld zu üben. Und erst diese Geduld ermöglichte das Durchhaltevermögen der Protestbewegung. Außerdem waren es Frauen, die die Demonstranten mit Tee und Essen versorgten.
So kreierten sie die Atmosphäre, in der lange Sit-ins und Proteste auch im Ramadan erst möglich wurden. Darüber hinaus nahmen Frauen ein viel größeres Risiko auf sich, wenn sie die Nächte auf öffentlichen Plätzen in gemischter Gesellschaft verbrachten. Sie widersetzten sich den gesellschaftlichen Normen, wenn sie demonstrieren gingen. Dass sie es dennoch taten, gab der Bewegung große Glaubwürdigkeit es kann keine Gerechtigkeit geben, die Frauen ausschließt.
Bisher waren Demonstrationen im Sudan vor allem männlich. Wie kommt es, dass diesmal so viele Frauen protestierten und auch die Führung übernahmen?
Ironischerweise spielte dabei Baschirs neoliberales Projekt zur Privatisierung öffentlicher Dienste eine zentrale Rolle: Während des Ölbooms der 2000er entstanden viele private Schulen und Universitäten, was den Zugang zu Bildung enorm erleichterte.
Junge, gebildete Frauen konnten daher ebenbürtig neben den Männern demonstrieren. Zudem entstanden in den letzten 15 Jahren viele weiblich geführte Initiativen zur Verbesserung der Situation von Frauen. Diese NGOs leisteten wichtige Bildungsarbeit und erinnerten die Menschen daran, wie wichtig Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung sind – was viele seit der Machtergreifung der Islamisten vergessen hatten. Außerdem begriffen viele Frauen, wie viel sie durch den Fall dieser Partei und ihres Systems zu gewinnen hatten. Frauen litten stärker unter dem Status quo als Männer.
Wie sah die Lage der Frauen im Sudan vor der Revolution aus?
Die politische Vorarbeit für die Unterdrückung der Frau wurde bereits vor Omar Al-Baschirs Regierungszeit gelegt: Bis in die 1970er Jahre war die sudanesische Gesellschaft relativ liberal, zumindest in den Städten. Doch 1977 ging der damalige Präsident Dschaafar Numeiri einen Deal mit den Islamisten ein, der den politischen Islam ins Zentrum der Politik rückte und 1983 zu den »Scharia-Gesetzen« führte. 1989 kam dann Baschir, auch mit Hilfe der Islamisten, an die Macht und verabschiedete 1992 die »Gesetze zur Öffentlichen Ordnung« (GÖO). Sie ermöglichten die Kontrolle über das gesellschaftliche Leben und dienten dem Regime als rechtlicher Rahmen zur staatlichen Terrorisierung von Frauen.
»Viele Menschen in Konfliktregionen kennen die Macht des Staates nur in Form von Maschinengewehren«
Wie haben diese Gesetze das Leben von Frauen beeinflusst?
Die Verordnungen betrafen offiziell jeden, aber in der Praxis wurde zum Beispiel der Artikel zu »angemessener Bekleidung« in den GÖO vor allem gegen Frauen angewendet – ich kenne keinen Fall, in dem ein Mann deswegen belangt wurde. Die Formulierungen im Gesetz waren dabei so schwammig, dass die Behörden sie vollkommen willkürlich missbrauchen konnten und primär gegen Frauen, vor allem Aktivistinnen, einsetzten.
Andere Regeln verboten Frauen, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds zu reisen oder mit den eigenen Kindern ohne Einwilligung des Vaters das Land zu verlassen. Solche Gesetze führten dazu, dass Frauen zu Bürgerinnen zweiter Klasse wurden. Baschir nutzte islamische Prinzipien, um die Gesellschaft durch die Unterdrückung der Frau zu kontrollieren. Wie auch in vielen anderen Staaten der Region hängt die Ehre eines Mannes im Sudan oft direkt daran, wie mit ihm verwandte Frauen wahrgenommen werden.
Waren dabei alle Frauen gleichermaßen betroffen?
Diesen Gesetzen waren zwar alle Frauen akut ausgesetzt, doch Frau-Sein ist eine intersektionale Erfahrung, die sich mit anderen Identitätsaspekten wie Klasse oder Ethnie überschneidet. Besonders heftig traf es Frauen aus ethnischen Minderheiten, häufig aus Konfliktregionen – eben jene, die sowieso schon kaum gesellschaftlichen Schutz genossen.
Welche persönliche Erinnerung verbinden Sie mit der Revolution von 2018/2019?
Bis kurz nach Baschirs Sturz war ich in Khartum. Meine Gefühle lassen sich kaum in Worte fassen. Ich war euphorisch, triumphierend und geschockt: Das war ein einmaliger Moment. Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten gingen auf die Straßen, um das Regime zu stürzen – reiche Männer aus Zentralsudan Seite an Seite mit heimatvertriebenen Frauen aus Darfur, alle skandierten die gleichen Slogans.
30 Jahre lang hatte das Regime jegliches Gefühl von Einheit oder Nationalbewusstsein systematisch demontiert, durch die Proteste fanden die Menschen ihre kollektive Identität wieder. Und als Baschir dann fiel, wurde alles möglich: Als sein Vize als Übergangspräsident ernannt wurde, jagten ihn die Menschen innerhalb von 24 Stunden aus dem Amt.
Es ist nicht die erste Revolution in der sudanesischen Geschichte. Was war diesmal anders?
Die Bewegungen von 1964 und 1985 entstanden an der Universität von Khartum, während die Revolution von 2018/2019 von Schulkindern in Damazin, der Hauptstadt der konfliktreichen Region Blauer Nil, ausgingen und anschließend als Anhäufung kleiner, dezentraler Proteste wuchs. Diesmal kamen die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen zusammen – eine Massenbewegung im ganzen Land, nicht nur Proteste in großen Städten.
2019 verabschiedete die Übergangsregierung einige Reformen. Hat die Revolution das Leben für Frauen tatsächlich verbessert?
Wie schon gesagt, Frau-Sein ist eine intersektionale Erfahrung. Die GÖO wurden im November 2019 abgeschafft, was Frauen scheinbar viele Freiheiten ermöglicht, zum Beispiel in der Wahl ihrer Kleidung – aber nur wenn sie aus einer Familie und Region kommen, in der sie tragen können, was sie wollen. Das Problem ist, dass die meisten Änderungen innerhalb des Rahmens der Scharia vorgenommen wurden. Solange die Scharia, zumindest in ihrer bisher praktizierten Form, weiter als Rückgrat der Gesetze fungiert, bleibt der Diskriminierung von Frauen Tür und Tor geöffnet. Und obwohl die Todesstrafe für Apostasie und Homosexualität abgeschafft wurde, wird beides immer noch kriminalisiert.
Im September unterzeichneten die Rebellengruppe »Sudanesische Volksbefreiungsbewegung« (SPLM-Nord) und die Regierung eine Grundsatzvereinbarung, die eine Trennung von Religion und Staat verspricht.
Das hat riesige Symbolwirkung. Erstmals stehen die Regierung und die SPLM-Nord auf der gleichen Seite. Noch steht ein Plan zur Umsetzung dieses Prinzips aus. Aber sollte es Gesetzeskraft erlangen, könnte es den Grundstein für eine wirkliche Gleichheit von Mann und Frau bilden.
»Als ich fragte, wo denn die weibliche Mitglieder seien, sagten sie, dass sie zu Hause Eid Al-Adha vorbereiten müssten«
Wie groß ist der Reformeifer?
Der öffentliche Druck auf die Regierung ist nach wie vor hoch: Bei Demonstrationen im Juni 2020 forderten die Menschen schnellere Reformen, woraufhin die Regierung weitreichende Gesetze verabschiedete, die Folter, Genitalverstümmelung und öffentliche Auspeitschungen abschafften. Aber selbst wenn Reformen sofort im ganzen Land durchgesetzt würden: Es gibt keine Garantie, dass mehr Freiheiten zu mehr Gerechtigkeit führen. Viele weitere Missstände müssen angegangen werden, nicht zuletzt die Aufarbeitung des Massakers vom 3. Juni 2019.
Vertrauen Sie der Übergangsregierung, weitere notwendige Schritte einzuleiten?
Diese Übergangsregierung ist momentan unsere beste Chance, und was wir bisher von ihr gesehen haben, entspricht auch größtenteils den Forderungen der Revolution. Aber die Regierung sollte nicht nur dann reagieren, wenn die Menschen wieder protestieren. Sie muss beweisen, dass sie wirklich weiter den Weg des Wandels gehen will. Eine baldige Dekriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen wäre beispielsweise ein klares Zeichen für echten Veränderungswillen.
Ein weiterer wichtiger Faktor dabei ist die Reichweite staatlichen Einflusses. Viele Menschen in Konfliktregionen kennen die Macht des Staates nur in Form von Maschinengewehren. Der Wandel muss schon bald im ganzen Land spürbar werden, nur so wird ein Wandel für alle möglich.
Der Frauenanteil in der sudanesischen Politik ist nach wie vor gering. Werden Frauen jetzt wieder beiseitegeschoben, sobald politische Entscheidungen anstehen?
Ja. Als nach dem Sturz Baschirs die Verhandlungen starteten, wurde die Beteiligung der Frauen nicht mehr als notwendig erachtet. Auch innerhalb der revolutionären Kräfte finden sich patriarchale Tendenzen. Sudanesische Politik ist außerdem stark militärisch geprägt, und das Militär ist eine inhärent männliche Institution. Wenn wir wirklich die Tendenz hin zur Militärherrschaft bekämpfen wollen, brauchen wir mehr Frauen in Machtpositionen.
Schon während der Proteste waren es oft Frauen, die wussten, was sie wollen. Frauenrechtsgruppen gehören zu den wenigen Akteuren im Sudan, die gesellschaftlichen Konsens schaffen können, ohne sich dabei auf konfessionelle oder ideologische Identitäten zu konzentrieren. Mit ihren themenbezogenen Forderungen zeigen sie den Sudanesen eine neue Form der politischen Auseinandersetzung auf. Doch leider beobachten wir aktuell eine Rückkehr zu ideologischer, parteipolitischer und männlicher Politik. Für mich ist das die größte Enttäuschung dieser Revolution. Einige Ministerinnen gehören der Regierung an, doch wir brauchen mehr als bloße Repräsentation in sonst unveränderten Strukturen.
»Frauen kreierten die Atmosphäre, in der lange Sit-ins und Proteste auch im Ramadan erst möglich wurden«
Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden?
Wir brauchen Frauenquoten. Aber wir sollten uns auch mit der Rolle der Bildung auseinandersetzen und uns mit den sozialen Geschlechterrollen beschäftigen, die wir jeden Tag reproduzieren. Dafür müssen wir die Gesetze anpassen, die politischen Strukturen reformieren und auch über unsere Sprache nachdenken. Männer »heiraten«, während Frauen »verheiratet werden«. Solche Kleinigkeiten sind alltägliche Erinnerungen an die weibliche Rolle in der Gesellschaft.
Mir ist bewusst, wie riesig diese Herausforderung ist, aber momentan haben wir eine Chance, die wir nicht vergeuden dürfen. Zur Veranschaulichung: Kürzlich traf ich ein paar junge Männer aus den Widerstandkomitees. Diese Jungs sind der Motor des Wandels und setzen sich für völlige Gleichstellung ein. Als ich sie fragte, wo denn die weiblichen Mitglieder seien, sagten sie, dass sie zu Hause Eid Al-Adha vorbereiten müssten. Wie frustrierend das für diese Frauen sein muss, selbst in ihrem politischen Engagement ständig von gesellschaftlichen Normen beschränkt zu werden.
Glauben Sie, dass sich der Sudan auf einem guten Weg befindet?
Bisher verlief die sudanesische Geschichte zyklisch: Seit der Unabhängigkeit 1956 wurden Phasen der Militärherrschaft stets von Revolutionen beendet, auf die einige Jahre des demokratischen Wandels folgten, bevor das Land wieder ans Militär fiel. Wenn es jetzt so weitergeht, kehrt bald die alte Parteipolitik zurück, die keine mehrheitsfähigen Ideen entwickeln kann, scheitert und dann wieder von der Armee abgelöst wird.
Was diesmal anders ist und mir Hoffnung gibt, ist die Fokussierung auf Inhalte. Während die Menschen früher stets mit der Absetzung des Diktators zufrieden waren, nehmen sich die Demonstranten diesmal selbst des Übergangs an und pochen auf ihre Forderungen. Die in der Zivilgesellschaft aktiven Widerstandskomitees haben verstanden, dass die Revolution weitergeht, solange noch Teile des alten Regimes an der Macht sind – besonders Frauen wissen, wie viel sie gewinnen, wenn die Militärherrschaft endgültig vorbei ist.